Sonja Dinner Xecutives.net Interview

Sonja Dinner Xecutives.net Interview

Sonja Dinner gründete 2006 mit zwei Partnern die The Dear Foundation (TDF) mit Sitz in Affoltern am Albis. Die Stiftung hat sich zum Ziel gesetzt, unternehmerisch gesteuerte und effiziente Entwicklungsarbeit zu leisten und Menschen auf der ganzen Welt in Not nachhaltig zu unterstützen. Ihr Ansatz ist Hilfe zur Selbsthilfe mit den Schwerpunkten Bildung und Gesundheit. TDF hat bisher in Zusammenarbeit mit anderen Institutionen über 500 Projekte lanciert, finanziert und/oder co-finanziert und vergibt Mikrokredite, vorzugsweise an Frauen, die gemäss Aussagen von Sonja Dinner nachhaltiger mit Geld umzugehen verständen als Männer. 2013 wurde Sonja Dinner für ihren Einsatz für Menschen in Not mit dem internationalen Teddy Kollek-Award ausgezeichnet. Mit der weltweit ersten Entwicklung einer App namens «Dear Mamma» haben sich Sonja Dinner und TDF unlängst ein weiteres Ziel gesetzt. Frauen sollen weltweit in Sachen Brustkrebs mit einer speziell entwickelten Präventions-App sensibilisiert und zur Prävention animiert werden, um die Zahl der Todesfälle aufgrund dieser heimtückischen Krankheit zu reduzieren. Nach wie vor sterben auf der Welt jährlich offiziell zwischen 500’000 und 700’000 Frauen an Brustkrebs. Diese Zahl ist stark steigend und die Dunkelziffer dürfte viel höher sein.

Wie auch immer Entwicklungshilfe geleistet wird, muss mit Kritik gerechnet werden. Offenbar hat hierzu jeder eine Meinung. Die Unternehmerin Sonja Dinner hat sich mit dem Thema eingehend auseinandergesetzt und vertritt in Sachen Entwicklungshilfe eine dezidierte Meinung. Im Interview stellt Sonja Dinner fest, dass Entwicklungsprojekte unternehmerisch angegangen werden müssen. Das Wort Gutmenschen ist für sie ein Reizwort und hat nichts mit Professionalität, Effizienz und auch Moral zu tun. In Sachen Migration stellt sie fest, dass die meisten Menschen, die nach Europa einreisen würden, nicht zu den wirklich armen Menschen gehörten und mit falschen Verheissungen in ein nicht existierendes Paradies gelockt würden. Diese Entwicklung ist äusserst asozial, weil die wirklich Armen und Kranken in Afrika ohne die Solidarität der jungen, kräftigen und nicht ganz armen Landsleute zurückbleiben. Wer sich die Reise nach Europa, auch mit Hilfe von Schlepperbanden, leisten könne, gehöre nicht zu den armen Menschen, mit denen sie zu tun habe und die sie unterstütze. Der Brain-Drain in den armen Ländern sei unbeschreiblich gross und könne und solle durch ausländische Hilfe nicht kompensiert werden. Sonja Dinner stellt schliesslich fest, dass die Kolonialisierung viel Unheil angerichtet habe und heute eine neue Form von Kolonialisierung von China betrieben werde, die für Afrika alles andere als nachhaltig sei, indem Afrika sein ganzes Tafelsilber an die Chinesen verscherble.

Dueblin: Frau Dinner, Sie haben vor 11 Jahren die The Dear Foundation (TDF) gegründet und sind seit her mit vielen Projekten in der Entwicklungshilfe auf der ganzen Welt tätig. Sie waren selber Unternehmerin, haben vor vielen Jahren Ihr eigenes IT-Unternehmen verkauft und sich seither der Entwicklungshilfe gewidmet, wofür Sie auch Ihr eigenes Geld eingesetzt haben. Mir fällt auf, dass man in der Entwicklungshilfe schnell auch mit vielen Anfeindungen und mit viel Kritik konfrontiert ist. Offenbar hat hier jeder eine Meinung zu diesem sehr schwierigen Thema. Liest man diese Kritiken, wird klar, dass das Thema nicht selten sehr polemisch und ideologisch gehandhabt wird, eine Einstellung, die man in einem KMU in geschäftlichen Angelegenheiten nicht an den Tag legen könnte, ohne das eigene Unternehmen zu gefährden resp. das Unternehmen verlassen zu müssen. Bei der Entwicklungszusammenarbeit ist das offenbar anders, ein bisschen wie im Fussball.

Sonja Dinner: Ich bin selber Unternehmerin und sehe auch meine Tätigkeit in der Entwicklungsarbeit sehr unternehmerisch. Damit unterscheide ich mich von sogenannten «Gutmenschen», die einen anderen Ansatz verfolgen. Sie wollen zwar Gutes bewirken; es fehlt ihnen aber u.a. an Professionalität, geschichtlichem, kulturellem und religiösem Hintergrundwissen, Prozessdenken und am Überblick der grossen Zusammenhänge. Wer in einem Unternehmen die übergreifenden Zusammenhänge nicht erkennt, kann nicht erfolgreich tätig sein. Darum ist Ihr Vergleich mit dem Unternehmertum ganz richtig. Unqualifizierte Aussagen führen in gut geführten Unternehmen dazu, dass Menschen ausscheiden, weil sie der Nachhaltigkeit eines Unternehmens nicht zuträglich sind. Mir kommen als positive Beispiele Namen wie Peter Spuhler oder auch Nick Hayek in den Sinn, Menschen, die ich, wie auch viele weitere gute Patrons, für ihre Leistungen, von denen die Schweiz profitiert, bewundere. Letzterer ist erstaunlich in die übergrossen Schuhe seines Vaters hineingewachsen. Er ist ein Patron, der ein tolles Unternehmen leitet, für seine Mitarbeitenden einsteht und ohne zu zögern auf Missstände aufmerksam macht. Es kann die Putzfrau, wenn sie schlecht behandelt wird, morgens in sein Büro gehen und mit ihm sprechen. Läuft im Unternehmen etwas schief, stehen die Mitarbeitenden im Gegenzug im Überkleid da und nehmen auch mal die Schaufel in die Hand, wenn sich bspw. in Reconvilier im Werk ein Brand ereignet hat. Nick Hayek steht auch mit der Schaufel da und geht mit gutem Beispiel voran. Er ist ein Patron, der zuhört und nachhaltige Ziele verfolgt. Dafür muss man zusammenhängend denken können und seine Mitarbeitenden mit Respekt behandeln.  

David Nabarro, former long-time WHO and UN advisor to Kofi Annan and Ban Ki-moon with Beatrice Tschanz, former Swissair Group top manager and Breast Cancer Activist

David Nabarro, former long-time WHO and UN advisor to Kofi Annan and Ban Ki-moon with Beatrice Tschanz, former Swissair Group top manager and Breast Cancer Activist

Dueblin: Nicht jeder kann mithalten, wenn es um unternehmerische Entscheide geht. Die von Ihnen genannten Personen zeichnet aus, dass sie zusammenhängend denken können. In der Entwicklungshilfe scheint das nicht immer der Fall zu sein. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen, das vielleicht stellvertretend für viele politische Themen steht? Jeder kann unqualifizierte und anonyme Aussagen von sich geben, die auch politisch missbraucht werden, ohne dass man Angst haben müsste, dafür geradezustehen, wenn man falsch liegt. Ich frage Sie das, weil ich Kommentare zu kritischen Aussagen von Ihnen zum Thema Entwicklungsarbeit gelesen habe, wo Sie klare Positionen beziehen.

Sonja Dinner: Sie sprechen ein sehr schwieriges Thema an, das auch mit dem grossen Wort «Globalisierung» zusammenhängt. Ich glaube, dass es sich auch um eine Zeitkrankheit handelt, über die wir uns schon Gedanken machen sollten. Jeder kann zu irgendeinem Thema seinen «Senf» dazu geben, wie Sie sagen, auch in anonymer Form, ohne wirklich Verantwortung für seine Aussagen zu übernehmen. Man darf das als feige betrachten. Ich selber sehe ein, auch wenn ich mit Kolleginnen und Kollegen spreche, dass ich von vielen Themen oft nicht viel verstehe. Ich kann manchmal nicht mitreden. Vielleicht habe ich bei einem Thema irgendein Bauchgefühl, aber mehr kann ich nicht beitragen. Dann ziehe ich es vor zu schweigen. Es ist ja keine Schande, wenn man nicht alles versteht. Wer versteht jedes Detail zur Atomenergie oder zu anderen hochtechnischen Fragen?! Nun verstehe ich jedoch etwas von Entwicklungshilfe und bin seit vielen Jahren als Unternehmerin tätig. Ich kann Bilanzen lesen und kann sehr gut rechnen. Ich nehme mir die Freiheit, auch kritisch über dieses Thema Auskunft zu erteilen. Es sind aber nicht nur diejenigen Leute, die unqualifizierte Ansichten vertreten, die gefährlich sind, sondern auch die sogenannten Gutmenschen. Auch sie haben oft eine feste Meinung, wenn es um Entwicklungshilfe oder um Migration geht. Und oft ist diese Meinung falsch.

Dueblin: Gutmenschen wollen Gutes tun. Was sehen diese Gutmenschen Ihres Erachtens falsch?

Sonja Dinner: Eine Praxisassistentin, die kürzlich anlässlich eines Arztbesuches mit mir sprach und die offenbar wusste, was ich mache, meinte, dass die vielen Menschen, die aus anderen Regionen in die Schweiz und nach Europa kämen, doch nichts dafür könnten. Sie würden aus purer Not hier landen und könnten in ihrem eigenen Land nicht mehr leben. Ich konnte diese Aussage oder Erkenntnis so nicht stehen lassen. Ich bin der Meinung, dass sehr viele Menschen, die zu uns kommen, durchaus in ihrem eigenen Land eine Schaufel in die Hände nehmen können. Diejenigen Menschen, die es von Afrika bis nach Deutschland oder in die Schweiz schaffen, sind nicht die ärmsten Menschen, mit denen ich es bspw. in Afrika in Zusammenhang mit unseren Projekten zu tun habe. Ein Schlepperdeal von Afrika bis in die Schweiz oder Deutschland kostet erwiesenermassen zehn- bis fünfzehntausend Franken, ein Betrag, den sich die meisten Menschen in afrikanischen Ländern schlicht gar nicht leisten können. Die ganz armen Menschen, die ich unterstütze, können sich eine solche Reise bestimmt nicht leisten. Ich kann auch die Kritik, dass es in gewissen Ländern oft schwierig sei, nicht einfach so gelten lassen und nenne hier nur das Beispiel von Dresden, das nach dem Zweiten Weltkrieg von Deutschen Frauen wiederaufgebaut worden ist. Das waren nicht Menschen aus dem Kosovo oder aus Afrika. Die Deutschen selber haben die Schaufel in die Hand genommen und eine unglaubliche Wiederaufbauarbeit geleistet. Das soll nicht gegen Afrika oder nur für Deutschland sprechen. Aber es geht oft vergessen, dass die Menschen Verantwortung übernehmen müssen und Entwicklungshilfe nichts nützt, wenn der Wille, etwas zu verbessern, nicht vorhanden ist.

Dueblin: Das Thema Migration ist sehr komplex. Viele sehen in den Migranten Opfer, möglicherweise auch die von Ihnen genannte Praxisassistentin, und gehen gar zurück bis in die Kolonialzeit, um Erklärungsmuster für die heutigen Umstände zu finden. Was ist Ihres Erachtens der Grund, dass so viele Menschen gerade auch nach Deutschland auswandern möchten? Der unlängst erfolgte Migrationsstrom nach Deutschland führt zu grossflächigen politischen Veränderungen, möglicherweise auch zum unrühmlichen Untergang von Bundeskanzlerin Merkel und einem althergebrachten Parteisystem. Gleichzeitig finden andere wichtige Themen keinen Platz.

Sonja Dinner: Es ist in der Kolonialzeit sehr viel Ungerechtes passiert. Tatsache ist aber, dass das alles noch nicht fertig ist. Die Chinesen sind seit einiger Zeit daran, das ganze Tafelsilber in Afrika zusammenzukaufen. Es ist eine neue Art des Kolonialismus, von dem wenige Menschen profitieren und der für Afrika alles andere als nachhaltig ist. Afrika ist in den Fängen von China, ein Land, das für sich selber sehr nachhaltig unterwegs ist und alles tut, um seine eigene Zukunft zu sichern. Afrika kommt hier gerade richtig und verkauft China leichtfertig seine Ressourcen. Davon profitieren einige wenige Clans und Familien. Hier stellt sich aber die Frage, ob wir wirklich auf dem richtigen Weg sind, wenn wir versuchen, anderen Menschen in anderen Weltregionen aufzuzwingen, wie sie leben sollen, wie sie produktiv sein sollen und zu funktionieren haben. Vielleicht ist ja unsere Sichtweise falsch. Vielleicht ist das auch ein grosses Problem unserer Industrialisierung. Vielleicht will Ghana gar nicht so produktiv sein, wie wir das in der Schweiz sind. Vielleicht kann man ja auch über die Runden kommen, wenn man das Leben anders angeht, als wir das tun. Das muss ein Land selber entscheiden dürfen.

Speech 30 years Anniversary in Israel December 2017 of The Mifne Institute dealing with young infant autism

Speech 30 years Anniversary in Israel December 2017 of The Mifne Institute dealing with young infant autism

Dueblin: Wie muss Entwicklungsarbeit Ihres Erachtens ganz grundsätzlich angegangen werden?

Sonja Dinner: Wir müssen mit guter Entwicklungsarbeit Menschen und ganze Länder unabhängig machen und eben nicht abhängig. Abhängigkeiten sind oft auch sehr bewusst herbeigeführt worden in der Entwicklungszusammenarbeit. Eine Abhängigkeit kann zu Machtpositionen führen, die man für die eigenen Interessen missbrauchen kann. Die Menschen müssen dort, wo sie zuhause sind, ein menschenwürdiges Leben führen können. Dafür setze ich mich ein. Menschen verlassen ihre Heimat nur ungern. Sie tun das oft tatsächlich aus Not oder kriegerischen Auseinandersetzungen. Es gibt jedoch zwischen 500 und 800 Mio. Afrikanerinnen und Afrikaner, die nach Europa gelangen wollen, wo sie sich ein besseres Leben versprechen. Die meisten dieser Menschen wollen nach Deutschland, weil dort falsche Signale in die Welt gesendet worden sind. Das kann Europa nicht ertragen. Schliesslich müssen Gelder, die gesprochen werden, auch richtig und effizient eingesetzt werden. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Frauen bei der Vergabe von Mikrokrediten viel bessere Leistungen erbringen und nachhaltiger mit Geld umgehen, als das Männer tun. Frauen haben auch ein Interesse daran, dass ihre Kinder zu guter Bildung kommen und sie sorgen dafür, dass Mädchen ein gutes Selbstvertrauen entwickeln.

Dueblin: Sie haben von Signalen gesprochen, die aus Europa gesendet wurden. Sie sprechen damit sicher Frau Merkel an, die mit einer umstrittenen Aussage eine «Willkommenskultur» begründet hat, die viral ging.

Sonja Dinner: Die Aussage von Frau Merkel war verheerend. Wir gehen davon aus, dass gegen 2 Mio. Migranten nach Deutschland gelangt sind. Rund 1,5 Mio. dieser Menschen sind registriert worden, manche vielleicht doppelt. Das ist egal. Das ist wie auch immer eine sehr grosse Zahl. Ein Teil hat sich wunderbare integriert und die deutsche Wirtschaft wird von diesen Menschen profitieren. Es gibt aber auch viele Menschen, die nicht nach Deutschland gehen, um sich zu integrieren und um zu arbeiten. Sie suchen nach einer besseren medizinischen Versorgung und wollen essen, ein schönes Haus, was zu einem gewissen Mass absolut verständlich ist und durch die medialen Bilder verführerisch ist. Wir würden das auch wollen. Aber schon rein unternehmerisch gesehen, ist das in Deutschland nicht für viele weitere Millionen von Menschen machbar.

Wir haben heute Fälle von Menschen, die jahrelang einen Mikrokredit haben wollten, die heute aber gar nicht mehr bereit sind, dafür etwas zu tun. Sie haben alle die Idee, nach Europa zu gehen, wo alles besser und bequemer ist. Oft hört man in der Diskussion mit diesen Menschen, dass sie in Deutschland ein Haus und Essen bekommen würden und man kennt den Namen von Angela Merkel. Das hat Frau Merkel mit ihrer Aussage im September 2015, dass diese Menschen alle in Deutschland willkommen seien, natürlich nicht gesagt. Ihre Aussage ist aber von den armen Menschen dort so gedeutet und von Schleppern noch verstärkt worden. Nun müssen wir auch nicht überrascht sein, wenn diese Menschen, wenn sie einmal in Deutschland ankommen, absolut enttäuscht sind. Man kann es ihnen nicht verübeln, weil sie es nicht wissen, aber es ist unfair und unmoralisch, Menschen mit falschen Versprechungen aus ihrer Heimat in andere Länder wegzulocken, wenn man diese Versprechen dann nicht einlöst.

Dueblin: Es gab auch in der Schweiz Momente, in denen Tausende von Menschen aus wirtschaftlichen Gründen in andere Länder ausgereist sind. In der Regel war es wirtschaftliche Not oder auch Abenteuerlust, die Menschen veranlasste, die Schweiz zu verlassen. Andere wurden aus religiösen und politischen Gründen gegängelt und bevorzugten ein Leben in einem anderen Land. Das Problem ist für die Schweiz nicht fremd, führt aber zu ungeheurer Polemik von allen Seiten.

Sonja Dinner: Sie haben absolut Recht. Die Schweiz hat es aber aus eigenem Antrieb geschafft, ein Land zu schaffen, das funktioniert und heute von vielen beneidet wird. Noch vor zweihundert Jahren haben in der Schweiz im Rheintal Menschen Gras gegessen, weil sie dermassen arm waren. Die Schweiz hat einen guten Tourismus auf die Beine gestellt. Die Schweizer haben zu ihrem Land Sorge getragen, es gab und gibt hier herausragende Unternehmer und man hat nachhaltige Entscheide getroffen. Denken Sie auch an die Gastarbeiter, die vor Jahrzehnten aus Spanien, Italien, Portugal und der Türkei in die Schweiz gelangt sind. Wir sprechen von sehr vielen Menschen. Sie sind aber in die Schweiz gekommen, um zu arbeiten und sie haben sich allesamt sehr gut integriert. Viele sind geblieben. Heute bekomme ich in Afrika von Afrikanerinnen und Afrikanern erklärt, wie unser AHV-System funktioniert. Die Leute wissen darüber mehr Bescheid als die meisten Schweizerinnen und Schweizer. Sie wissen, wie Hartz IV funktioniert und bekommen über elektronische Medien oft auch ein völlig falsches Bild von uns und unserer Lebensweise. Man schaut sich dort Bilder von schönen Häusern an, die alle einen Swimming Pool haben und ist der Meinung, dass das hier der Standard ist, den jeder geniessen kann, der es nach Europa schafft. Diese falschen Bilder werden von Schleppern verstärkt und verbreitet.

Ein grosses Problem ist gerade in Afrika die Überbevölkerung. Die Grundbedürfnisse des Menschen sind nach meiner Meinung universell immer noch dieselben wie schon immer. Wir wollen Liebe, Essen, Sicherheit und eine gute Grundversorgung. In Europa hat die Aufklärung viel zum Erfolg beigetragen. Das war ein Quantensprung, der Buchdruck, dann später die Industrialisierung sowie der Laizismus. Eine grosse Errungenschaft hier in Europa ist die Art und Weise, wie wir mit behinderten Menschen und Minderheiten umgehen. Sie wurden integriert und man versucht sie nicht auszugrenzen, nur weil jemand rote Haare hat, Albino ist oder schielt.

Dueblin: Sie haben eben Zahlen dieser Migranten genannt. Viele haben in Deutschland bereits eine Arbeit gefunden, andere bereiten Probleme. Wie auch immer, wird dieses Thema von der Politik aufgenommen und wer zu diesem Thema heute als Politiker und Politikerin nichts zu sagen hat, wird nicht gewählt. Es ist sogar so, dass viele Menschen den Anschein erwecken, nebst diesem Thema auch sonst nicht viel zu verstehen. Betrachtet man das nun wieder aus unternehmerischer Sicht, müsste man feststellen, dass es hier doch noch ein paar andere Probleme auch gibt, die uns beschäftigen sollten, die aber nun von der Migrationsdebatte vollkommen übertüncht werden.

Sonja Dinner: Diese Menschen kommen aus einer anderen Weltregion. Sie kommen geprägt von ihrer eigenen Kultur in eine neue Kultur, die sie nicht verstehen. Das erklärt auch viele Fälle, auch dort wo es um Frauen geht, die belästigt werden und sich belästigt fühlen. Themen, wie Sie richtig sagen, die dann leicht politisch und medial ausgeschlachtet werden können, wie das heute leider oft der Fall ist. Stellen Sie sich vor, wir beide müssten jetzt in Addis Abeba leben. Wir hätten unerhörte Probleme mit der neuen Kultur. Vieles würden wir überhaupt nicht verstehen und ein zweiwöchiger Einschulungskurs zu Verhaltensregeln in diesem Land würde mit Sicherheit nur wenig nützen. Wir zwei würden vielleicht eine Jass-Gemeinschaft gründen, die auch niemand verstehen würde (lacht).

Sonja Dinner

Sonja Dinner

Es ist interessant zu sehen, was heute in Deutschland aber auch andernorts passiert. Philipp Hildebrand, unsere ehemaliger Nationalbankchef, hat gesagt, dass Politiker auch im Zusammenhang mit dem Brexit den Kontakt zum Volk verloren hätten. Das macht die Menschen aggressiv aber auch frustriert. Ich erzähle Ihnen das, weil ich gestern am Radio mitbekommen habe, wie die SPD und die CDU ihre Wahlverluste in Hessen von über 10% verargumentieren. Sie sprechen von absoluten Zahlen, aber nicht davon, dass sie das Vertrauen und den Bezug zu einer grossen Bevölkerungsschicht völlig verloren haben. Dann frage ich mich, wie tot dieser Komapatient denn noch sein muss, bis persönliche Verantwortung übernommen wird. Und hier wären wir wieder bei Ihrem Thema Unternehmertum. Eine solche Vorgehensweise wäre in einem KMU vollkommen unmöglich. Man kann nicht schlechte Zahlen, die vorliegen, einfach so zu guten Zahlen erklären. In einem solchen Fall müssen auch Rücktritte in Betracht gezogen werden. Wir haben Probleme mit Aufrüstung, Ost-West Probleme, Probleme mit einigen Präsidenten, die bedenklich agieren, wir haben Atomfragen und Umweltfragen, die uns beschäftigen sollten.

Tatsächlich ist es so, dass die Migration heute eine überdimensionale Rolle spielt und damit andere Themen in den Hintergrund gedrängt werden. Wir Menschen, aber auch Politiker, sind überfordert. Es ist anspruchsvoll und auch bedrohlich, was täglich passiert und da widmet man sich lieber dem, das einem am besten liegt und zu möglichst wenig Unannehmlichkeiten führt. Schauen Sie, ich muss hin und wieder eine Parkbusse bezahlen, und ich weiss, dass ich bezahlen muss, weil ich zu lange auf einem Parkfeld geparkt habe. Das ist alles in Ordnung. Manchmal denke ich mir aber, ob man denn nicht mit derselben Akribie Schwerverbrecher und Internet-Betrüger suchen müsste. Wäre das gesamtwirtschaftlich nicht sinnvoller und nachhaltiger? Auch das kann man, wie Sie das tun, unternehmerisch deuten. Menschen lösen das, was sie können, und das andere bleibt liegen, weil man es nicht kann und nicht versteht, so auch in der Entwicklungshilfe. Ein Unternehmer muss Erkenntnisse gewinnen, analysieren und entsprechend Gegensteuer geben. Es nützt nichts, sich auf Nebenschauplätzen zu bewegen, wenn der Hauptschauplatz nicht funktioniert. Das würde zum Tod eines Unternehmens führen.

Dueblin: Im Rahmen der TDF, die Sie managen, sind Sie mit einem neuen Projekt unterwegs, das in den letzten Monaten immer wieder in den Medien diskutiert worden ist und auch mit Entwicklungsarbeit zusammenhängt. Sie haben eine Präventions-App entwickeln lassen, mit der sich Frauen auf der ganzen Welt in Sachen Brustkrebs richtig und selber untersuchen können. Was waren die Beweggründe, dieses Projekt in Angriff zu nehmen?

Sonja Dinner: Für dieses Projekt mussten wir in unserer Stiftung umdenken. Es war zunächst entschieden worden, dass wir nicht mit sozialen Medien arbeiten und auch keine Website haben. Als es dann um das Projekt «Dear Mamma» ging, wurde klar, dass wir ohne Internet und IT nicht erfolgreich sein können. Es sterben zurzeit jedes Jahr 500’000 bis 700’000 Frauen an Brustkrebs. Viele dieser Todesfälle liessen sich vermeiden, wenn Frauen prophylaktisch tätig wären und sich selber die Brust abtasten würden, um Tumoren zu erkennen. Brustkrebs ist keine Grippe, die wieder weggeht. Die Krankheit ist auch nicht ansteckend, wie das in vielen Ländern von vielen Menschen angenommen wird. Das Dear Mamma-Projekt hat mit Bildung, Aufklärung und der Eliminierung von Scham im Zusammenhang mit Brustkrebs zu tun.

Grund für dieses Projekt sind auch persönlicher Art. Ich selber habe eine Cousine verloren, die an Brustkrebs erkrankt ist. Auf meinen vielen Reisen anlässlich meiner Projekte auch in Afrika bin ich vielen Menschen begegnet, die ihre Frau oder ihre Mutter verloren haben. Mich hat das persönlich sehr beschäftigt. Diese heimtückische Krankheit führt zu viel Elend. Wir gehen davon aus, dass es pro Jahr etwa 1,5 Mio. neue Brustkrebsfälle gibt. Man geht davon aus, dass bis ins Jahr 2030 etwa 2,5 Mio. Frauen neu an dieser Krankheit leiden werden. Die Dunkelziffer dürfte weit höher sein. Man weiss nicht genau, warum das so ist. Aber Aufklärung und Sensibilisierung soll helfen, unnötige Todesfälle zu verhindern und Druck auf die nationalen Gesundheitssysteme auszuüben. Es gibt eine genetische Komponente und es gibt Risikofaktoren, die eine Rolle spielen, aber keine Impfung oder Immunisierung gegen die Krankheit, die übrigens auch Männer betrifft.

Am 14. Oktober 2018 haben wir in Ramallah in Palästina einen Tag der Aufklärung durchgeführt. Es waren rund 200 Frauen vor Ort und es sind sehr viele Fragen gestellt worden. Ziel dieser Aktion war eine gute und solide Basisaufklärung. Wir wollen damit auch die Scham vor der Krankheit bekämpfen. Frauen, die ihre Brust verlieren und an der Krankheit leiden, sollen sich nicht schämen müssen. Das führt zur Stigmatisierung dieser kranken Menschen. Wir müssen uns bei dieser Arbeit auch mit religiösen Fragen auseinandersetzen. Das ist der Grund, weshalb wir einen Imam und einen Rabbiner involviert haben, die sich beide für das Projekt einsetzen. In arabischen Ländern herrscht bspw. die weitverbreitete Einstellung, dass sich Frauen die eigene Brust nicht abtasten dürfen. Beide religiösen Führer fordern die Menschen auf, sich in Bezug auf diese Krankheit eigenverantwortlich zu verhalten. Sie teilen den ihnen auch mit, dass Brustkrebs kein Grund ist, dass ein Mann seine Frau verlässt. Sie sehen, das ist alles sehr vielseitig und es gibt verschiedenste kulturelle und religiöse Hürden, die wir bewältigen müssen. Wir verfolgen ehrgeizige Ziele und sind natürlich auch auf die Zusammenarbeit mit anderen Menschen und Organisationen angewiesen. Zurzeit sind wir in vier Pilotländern tätig, in Palästina und Israel, Burkina Faso und Äthiopien.

Veronica Ferres zur Brustkrebspräventions-App und über ihr Engagement in Sachen Brustkrebsbekämpfung

Veronica Ferres zur Brustkrebspräventions-App und über ihr Engagement in Sachen Brustkrebsbekämpfung

Dueblin: Frau Dinner, was brauchen Sie, um dieses spannende Projekt zu einem guten Ende führen zu können? Was könnte die offizielle Schweiz beitragen?

Sonja Dinner: Die Entwicklung eines erschwinglichen Impfstoffes auch in ärmsten Ländern gegen Brustkrebs wäre natürlich etwas plakativ ausgedrückt die beste Lösung. Da gibt es in der Pharmaindustrie weltweit vielschichtige und hochinteressante Ansätze, die aber leider wahrscheinlich noch weit von der Marktzulassung entfernt sind.

Und um Ihre zweite Frage zu beantworten: Die offizielle Schweiz würde uns am meisten helfen, wenn Herr Botschafter Manuel Sager vom Deza beispielsweise CHF 10 Mio. von seinem rund CHF 10 Mia. Etat an das Brustkrebsprojekt beisteuern würde, womit wir hocheffizient in vielen ärmsten Ländern Millionen von Frauen aufklären und hoffentlich vor einem unnötig frühen Sterben bewahren könnten. Millionen von Vollwaisen würden so von ihren Müttern viel länger grossgezogen.

Dueblin: Frau Dinner, ich bedanke mich für die Zeit, die Sie sich für dieses Interview genommen haben und wünsche Ihnen und der The Dear Foundation weiterhin alles Gute und viel Erfolg bei Ihrem Brustkrebsbekämpfungsprojekt!

 

(C) 2018 by Christian Dueblin. Alle Rechte vorbehalten. Anderweitige Publikationen sind nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors gestattet.

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Interview mit Frau Elizabeth Neuenschwander zum Thema Entwicklungshilfe in Afghanistan und Pakistan

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