Prof. Dr. Christa Ebnöther

Prof. Dr. Christa Ebnöther

Prof. Dr. Christa Ebnöther, Jahrgang 1961, ist seit 2011 Mitdirektorin des Institutes für Archäologische Wissenschaften und Ordinaria für Archäologie der Römischen Provinzen an der Universität Bern. Sie gilt als ausgewiesene Kennerin der römischen Kulturgeschichte in der Region der heutigen Schweiz. In ihrer Promotionsarbeit bei Professor Stefanie Martin-Kilcher „Der römische Gutshof in Dietikon“ setzte sie sich eingehend mit den Römern und ihrer Kultur auseinander. 2007 folgte eine Habilitation zum Thema „Gemeinschaften im städtischen Raum: Erscheinungsformen von Kult- und Versammlungsorten häuslicher und nichthäuslicher Gemeinschaften im Römischen Nordwesten. Ein Beitrag zur Erforschung des antiken Vereinswesens aus archäologischer Sicht, ausgehend vom „Haus des Merkur“ in Chur/Curia (GR, Schweiz)“. Das heutige Gebiet der Schweiz, das vorwiegend von Kelten, so beispielsweise von den Helvetiern und den Raurachern bewohnt war, die viele als unsere Ahnen betrachten, stand unter grossem römischem Einfluss, der bis heute nachwirkt. Im Interview mit Christian Dueblin beantwortet Frau Professor Ebnöther u.a. Fragen zur Zeit der römischen Präsenz in der Region der heutigen Schweiz und über deren Auswirkungen bis in unsere Zeit. Sie erfahren mehr über den Käseexport der Kelten, über Cäsar und die Schlacht bei Bibracte und es werden Erkenntnisse der Archäologie aufgezeigt, die Rückschlüsse auf viele geschichtliche Ereignisse erlauben. Auch Liebhaber der römischen Küche kommen mit einem Start-up, das nach römischen Originalrezepten kocht, auf ihre Rechnung.

Dueblin: Sehr geehrte Frau Professor Ebnöther, an der Universität Bern haben einige sehr bekannte Persönlichkeiten geschichtliche Studien rund um die Römer und ihre Kultur betrieben, so beispielsweise die Professoren Rudolf Fellmann, Stefanie Martin-Kilcher und Elisabeth Ettlinger. Wie kamen Sie selber zur Archäologie und was waren die Beweggründe, sich sehr intensiv mit dieser Seite der Geschichtsforschung auseinanderzusetzen?

Prof. Dr. Christa Ebnöther: (Lacht) Das ist nicht einfach zu erklären. Meine Karriere war in keiner Weise geradlinig. Sie fanden mich also mit 12 Jahren nicht am Graben nach Münzen und dergleichen suchend. Nach der Schule und der Matura interessierte ich mich zunächst sehr für Ethnologie und auch für Islamwissenschaften – für andere Welten und Kulturen. Aus verschiedenen Gründen ging dies aber nicht, so suchte ich weiter – in anderen Zeiten. Ich ging bei den klassischen Archäologen schauen. Die Vasen und Statuen sprachen mich aber nicht an. Dann kam ich zu den Ur- und Frühgeschichtlern. Dort lagen 5000 Jahre alte schwarze Scherben, die darauf warteten, dass sie quasi enträtselt wurden, sprich daraus Geschichte geschrieben wird. Das war es! Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich weiter Archäologie betreiben wollte. Nebenbei arbeitete ich schon immer an Projekten, bei denen es um die Römer ging. Ich nahm nach über 10 Jahren Tätigkeit für die Kantonsarchäologie und einem Aufenthalt in England, wo ich theoretische Archäologie studieren konnte, eine Dissertation über einen Römischen Gutshof in Dietikon in Angriff. Später folgten eine Habilitation und die Berufung zunächst nach Basel und dann zur vollamtlichen Professorin an die Universität Bern.

Professor Martin-Kilcher machte übrigens vor kurzer Zeit eine ganz interessante Untersuchung. Sie ging der Frage nach, wie man Archäologin oder Archäologe wurde und hat viele Menschen, die auf dem Gebiet der Archäologie tätig waren und sind, zu ihrem Lebenslauf interviewt. Dabei hat sie sehr viele Lebensaspekte (Elternhaus, Ausbildung, Sternzeichen) berücksichtigt. Ich musste nach der Lektüre dieses gelungenen Artikels jedoch feststellen, dass ich in einem gewissen Sinne eine untypische Quereinsteigerin bin.

Dueblin: Die meisten Lesenden dürften aus dem Geschichtsunterricht noch wissen, dass im Gebiet des Mittellandes die Helvetier wohnten und nördlich des Jura-Gebietes die Rauracher, beides keltische Stämme, mit denen sich viele Menschen heute identifizieren. Bevor wir nun auf den Einfluss der Römer auf unsere Region zu sprechen kommen, möchte ich Sie fragen, wie man sich das keltische und römische Leben bei uns damals ganz generell vorstellen muss?

Prof. Dr. Christa Ebnöther: Ihre Fragestellung ist hier bei uns an der Universität Bern und in der Abteilung Ur- und Frühgeschichte zurzeit sehr aktuell. Wir führen im Moment ein Seminar durch, in dem diese Zeit zusammen mit den Studentinnen und Studenten genauer besprochen und unter die Lupe genommen wird. Im klassischen Schulunterricht wird den Schülerinnen und Schülern vermittelt, dass die Römer in unsere Gegend kamen, dass unser Land erobert wurde und wir Teil des römischen Reiches wurden, um es mal ganz einfach auszudrücken. Dabei wird auch auf militärische Aspekte dieser „Eroberung“ der Römer eingegangen und man hört von Kaisernamen wie Augustus und Cäsar. Wir wissen heute jedoch, dass der Prozess der Romanisierung schon viel früher anfing, also weit vor der Zeit dieser beiden schillernden Figuren in der Geschichte der Römer. Schon im 2. Jh. v. Chr. lebten die Helvetier und andere Stämme in und um das Gebiet der heutigen Nordwestschweiz und des Mittellandes. Die Menschen hatten schon damals regen Kontakt zum römischen Reich. Darauf lassen Importgüter schliessen, die bei Ausgrabungen gefunden wurden. Es sind vor allem Bodenfunde, die uns heute zeigen, dass beispielsweise Wein importiert worden ist, eines der wichtigsten Exportprodukte aus dem Mittelmeerraum. Es darf davon ausgegangen werden, dass Kelten auch nach Rom reisten und ein reger Handelsverkehr zwischen dem Raum nördlich der Alpen und dem römischen Reich geherrscht hat.

Dueblin: Einigermassen belegt, vor allem auch aufgrund der Berichte von Cäsar in seinem Werk „De Bello Gallico“, sind die Geschehnisse rund um das Jahr 58 v. Chr. Damals machten sich u.a. die Helvetier und die Rauracher in Richtung Rohnetal auf. Bei der Schlacht von Bibracte, beim heutigen Autun, wurden sie offenbar von Cäsar besiegt und zurückgewiesen. Wie muss man sich dieses Unterfangen heute vorstellen und was weiss man über diesen Auszug der Keltenstämme, darunter auch der Helvetier und Rauracher, in Richtung des damaligen Galliens?

Prof. Dr. Christa Ebnöther: Tatsächlich ist dieses Unterfangen der Helvetier und Rauracher einigermassen belegt und wir wissen heute mit Gewissheit, dass sich Keltenstämme auf den Weg Richtung Gallien machten. Vieles ist aber auch trotz den Berichten von Cäsar nicht klar. Sicher ist, dass keltische Stämme wegzogen, aber auch wieder zurückkamen. Wichtig erscheint mir, dass zu dieser Zeit das Meiste in Sachen Romanisierung im Mittelland, und somit auch bei den Helvetiern, schon passiert war. Wir haben aufgrund von archäologischen Funden viele Belege dafür, dass schon im 1. Jh. v. Chr. Römer, darunter auch Soldaten, in unserer Region waren. Es ist nicht immer klar feststellbar, ob Funde kurz vor dem Jahr 58 v. Chr. datieren oder kurz nachher. Sicher ist aber, dass die Römer schon vor der Schlacht von Bibracte die Kontrolle über unseren heutigen Lebensraum hatten oder zumindest überall präsent waren und grossen Einfluss ausübten.

Ab 58 v. Chr. wurde unser Gebiet, das Gebiet der Helvetier, sicher von den Römern kontrolliert. Ab diesem Zeitraum war es für die keltischen Stämme schwierig, etwas ohne das Einverständnis der Römer zu unternehmen. Das Schlachtfeld in Bibracte ist übrigens noch nicht gefunden worden.

Dueblin: Welches sind die Fundgegenstände, die Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen finden und die Aufschlüsse über geschichtliche Ereignisse, wie die eben von Ihnen beschriebenen, geben können?

Prof. Dr. Christa Ebnöther: Es sind vereinzelte kleine Funde, beispielsweise Bestandteile von militärischen Ausrüstungen, Schuhnägel und Waffen, die zeigen, dass römische Soldaten in unserer Gegend waren. In den letzten Jahren wurden auf dem Septimerpass interessante Funde gemacht. Mit Metalldetektoren konnten viele Gegenstände entdeckt werden, die von Feldzügen herstammen dürften, die unter Kaiser Augustus aus der Zeit von 16/15 v. Chr. durchgeführt worden sind. Damals wurde unser Gebiet auch mit militärischen Mitteln ins Römische Imperium überführt. Aus dieser Zeit stammen auch die Militärlager, die Aufschluss über die damalige Zeit und die Präsenz der Römer in unserem heutigen Lebensraum geben.

Es gibt aber wie gesagt auch andere Funde, die zeigen, dass es schon vorher kriegerische Auseinandersetzungen gegeben hat.

Dueblin: In den Alpen scheint es viel länger gedauert zu haben, bis die Römer Dörfer und Siedlungen mit ihren Menschen im Griff hatten. Worauf ist das zurückzuführen? Hatten diese Menschen in den Alpen den Römern die Stirn geboten oder waren sie den Römern schlicht egal?

Prof. Dr. Christa Ebnöther: Die Bewohner in den Alpen haben, und das können wir Archäologen sehr schön nachweisen, ihre Traditionen tatsächlich sehr viel länger behalten können als die Bewohner etwa des Mittellandes. Wir erkennen das an der Kleidung und am Essen, aber auch in Bezug auf die Bestattungsriten. Die Frauen trugen in den Alpen nachweislich Trachten, die sehr keltisch geprägt waren. Das dauerte bis ins 3. Jh. n. Chr. Die Siedlungen in den Alpen, die nicht gerade an den grossen Verkehrsachsen des Grossen St. Bernhard oder beispielsweise des Julierpasses lagen, sind sehr lange sehr traditionell geblieben. Die Siedlungsstruktur hat sich besonders an den Orten, die für die Römer wichtig waren und wo sie präsent waren, verändert. Wir erkennen das an der Steinbauarchitektur, welche wir von den Römern übernommen haben, aber auch an der Tatsache, dass es beheizte Räume gab und schliesslich auch am Kuppelbau, der durch die Steinbautechnik ermöglicht wurde. Die Städte mit dem Markt, dem Forum und dem rechteckigen Strassenraster haben sich, wo die Römer auch immer waren, durchgesetzt. In den Alpen, weg von den Verkehrshauptachsen, hat sich die ursprüngliche Siedlungsstruktur wenig verändert, sprich der römische Einfluss war nur gering. Diese traditionellen Siedlungen blieben oft bis weit ins Mittelalter gleich, was man heute bei Ausgrabungen in vielen Dörfern im Wallis sehr schön erkennen kann.

All das darf durchaus so interpretiert werden, dass die Römer an diesen Dörfern in den Alpen gar kein grosses Interesse hatten. Nur entlang den Verkehrsachsen und an wichtigen Zentralorten hatten sie offenbar ein Interesse. In der Regel passierte das aber gar nicht mit kriegerischen Mitteln, sondern entwickelte sich aufgrund des intensiven Handels, den die Römer meisterlich betrieben, von alleine. Wir stellen uns heute an Seminaren mit Studentinnen und Studenten beispielsweise auch die Frage, ob Widerstand archäologisch nachweisbar ist. Dass Menschen ihre Kleidungstradition aufrechterhalten haben, könnte auf Widerstand und Aufbegehren hindeuten. Die Ursache für diesen Umstand könnte aber auch darin liegen, dass man schlicht kein Interesse oder Bedarf hatte. Wir wissen, dass Rom gewisse Dinge sehr wichtig waren, so der Kaiserkult, die Hauptgötter, die Steuern und das Einhalten gewisser Verwaltungsvorschriften. Andere Sachen schienen sie weit weniger zu interessiere.

Dueblin: Augustus hat die Alpenregion, aber auch die restliche heutige Schweiz, in den Jahren 16 und 15 v. Chr. militärisch erobert. Wie muss man diese Eroberung nach dem eben Gesagten heute interpretieren und wie kriegerisch waren die Ereignisse wirklich?

Prof. Dr. Christa Ebnöther: Über Monaco steht heute das grosse Siegerdenkmal des Augustus. Es datiert von 7/6 v. Chr. Augustus verkündete damals, er habe alle Alpenvölker besiegt. Wir kennen beispielsweise im Wallis Inschriften zu Ehren des Augustus, die aus den Jahren 3 und 4 v. Chr. datieren. Wenn so kurz nach Augustus‘ „Sieg“ solche Inschriften entstanden sind, so muss man sich natürlich fragen, ob wirklich viele kriegerische Auseinandersetzungen stattgefunden haben. Wären die Auseinandersetzungen um die Alpenvölker so gravierend gewesen, so würde man doch eher nicht erwarten, dass kurze Zeit danach in diesen Dörfern Inschriften zu Ehren des Kaisers geschaffen wurden. Vielmehr scheint es heute, dass dieser Siegeszug grösstenteils wohl eher eine Formalität war. Augustus hatte schon in den Dreissigerjahren v. Chr. Auseinandersetzungen in den Alpen. Ob ihn wirklich die Alpenvölker interessiert hatten oder doch mehr die Passagen, die dem regen Handel zwischen Süd und Nord dienten, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden.

Dueblin: Es handelt sich also nicht um einen Moment oder einzelne Momente, die darüber entschieden, ob wir unter römische Herrschaft kamen oder nicht, sondern um einen langen Prozess, den mehrere Generationen von Menschen gestaltet und gelebt haben.

Prof. Dr. Christa Ebnöther: Den Römern ist es gelungen, die einheimischen Eliten für sich zu gewinnen. Indem sie ihnen Privilegien zukommen liessen, bekamen die Römer auch Einfluss über die ganze Gefolgschaft dieser Eliten. Der Elite wurde das römische Bürgerrecht angeboten und sie hatte die Möglichkeit, wichtige Ämter zu übernehmen, die sonst von den Römern bekleidet wurden. All das hat viel dazu beigetragen, dass der römische Einfluss auch nach unten gesickert ist, oft ohne dass Gewalt oder Kriege nötig waren.

Dueblin: Wie gingen die Römer mit anderen Religionen um? Liessen sie die Kelten mit ihren eigenen Gottheiten und Bräuchen gewähren?

Prof. Dr. Christa Ebnöther: Rom war in Sachen Religion sehr tolerant. Die unterworfenen Völker mussten die Staatsgötter anerkennen und man musste sich dem Kaiserkult unterwerfen. Alles andere war den Römern aber mehr oder weniger egal. Die Götter wurden von den Einheimischen teils einfach umbenannt. Damit umging man elegant das Problem.

In einer römischen Stadt steht im Zentrum immer das Forum, also das administrative, wirtschaftliche und religiöse Zentrum. Dort befand sich der Haupttempel für die Staatsgötter und den Kaiserkult, der nach mediterranem Vorbild erbaut wurde. Am Rand der Städte jedoch, so zeigen Ausgrabungen im Gebiet des damaligen Galliens, gab es viele Heiligtümer und Tempel nach gallo-römischem Schema. Um die grossen Städte und römischen Siedlungen herum – so beispielsweise in Avenches und Augst – sind Tempel gefunden worden, in denen nicht den Staatsgöttern oder den Kaisern gehuldigt worden ist, sondern vor allem den einheimischen Göttern.

Ganz interessant in diesem Zusammenhang erscheint mir auch Martigny. Im Zentrum neben dem Forum stand auch dort der Haupttempel. Im 3. und 4. Jh. n. Chr. wurden weitere Kultbauten errichtet. In Martigny wurde auch ein Mithras-Tempel gefunden. Der Mithras-Kult ist eine Erlöserreligion, die von Persien stammt. Je nach Lebenssachverhalt huldigten die Römer diesem oder jenem Gott. Man darf das durchaus mit der katholischen Kirche und ihren vielen Heiligen vergleichen, die auch heute noch von Gläubigen je nach Lebenssituation angerufen und um Hilfe gebeten werden. Mithras war eine Kultgemeinschaft, eine geschlossene nur für Männer zugängliche Gesellschaft, wo Riten und Initiationen durchgeführt wurden. Es gibt im Gebiet des alten römischen Reiches viele dieser Mithras-Kultbauten. In der Schweiz gibt es nur wenige davon. In Martigny ist auch ein erster christlicher Kultbau aus der gleichen Zeit bekannt. Es gibt Nachweise, die zeigen, dass dort schon im 5. Jh. n. Chr. ein Bischofssitz war. Interessant ist nun, dass es gleichzeitig Mithras-Kultgemeinschaften und christliche Gemeinschaften gegeben hat. Es ist nichts Genaueres bekannt, aber es ist durchaus vorstellbar, dass Menschen sich damals beiden Kulten zugewendet haben. Diese Kultbauten sind alle ausserhalb von Martigny, so wie in den anderen Städten auch, die unter römischem Einfluss standen. Wir Archäologen interessieren uns für die Architektur dieser Tempel. Denn sie lassen auch Rückschlüsse auf das soziale und religiöse Leben zu.

Dueblin: Wie kam dieser Mithras-Kult denn von Persien beispielsweise in das Gebiet der heutigen Schweiz?

Prof. Dr. Christa Ebnöther: Wir können nur Vermutungen anstellen. Wohl haben römische Soldaten diesen Kult aus dem Osten ins heutige Italien mitgenommen. Von dort fand der Kult dann auch seinen Weg in das Gebiet der heutigen Schweiz. Es dürften zuerst einzelne Menschen gewesen sein, die diesen neuen Kult einführten und Gleichgesinnte suchten. In Graubünden ist in Zillis vor einigen Jahren nahe der römischen Passstrasse eine Kulthöhle gefunden worden. Es sind in dieser Höhle sehr viele Kultgegenstände aufgetaucht, auch Münzen, Kristalle und mit Schlangenmotiven versehene Kultgefässe. Es deutet zwar alles darauf hin, dass es sich um eine Höhle handelt, in der der Mithras-Kult betrieben worden ist. Leider fand man jedoch keine Inschriften, die dies belegen würden. Der Kult zeichnet sich u.a. auch durch das Verspeisen von Hähnen (auf Schweizerdeutsch „Güggel“) aus. Es sind hunderte von Knochenfunden von Hähnen gemacht worden. Von Süden nach Norden Richtung Chur herrschte damals ein reger Handelsverkehr. Es erstaunt also nicht, dass entlang dieser Handelsstrassen und Passstrassen auch Orte für Kulthandlungen eingerichtet und frequentiert worden sind. In Zillis ist auch eine sehr früh datierte Kirche gefunden worden. Zurzeit beschäftige ich mich mit der Frage, ob zwischen der Mithras-Höhle und dem Mithras-Kult, der dort betrieben worden ist, und der frühen christlichen Kirche unweit von dieser Höhle entfernt, eine gewisse Zeitgleichheit erkannt werden kann. Das ist nicht ganz einfach. Es handelt sich aber um einen sehr interessanten religiös-geschichtlichen Aspekt.

Dueblin: Was unterscheidet diese Kultbauten denn von römischen Tempeln, wie wir sie von bekannten Grabungsstätten her kennen, so etwa auch im heutigen Augusta Raurica oder in Avenches?

Prof. Dr. Christa Ebnöther: Der römische Haupttempel befindet sich immer im Zentrum auf dem Forum einer römischen Stadt. Er weist eine sogenannte Cella auf. Das ist das Allerheiligste, das Haus eines Gottes. In der Mitte steht die Statue des Gottes. Diese Cella gehört diesem Gott und sie durfte von Gläubigen nicht betreten werden. Der Altar, wo die Riten mit „Priestern“ (diese waren Beamte, d.h. nicht Berufene) abgehalten worden sind, befindet sich ausserhalb eines jeden römischen Tempels. Bei geschlossenen Kultgemeinschaften, wie es die Gemeinschaften um den Mithras waren, war dies anders. Ihre Bauten waren keine Tempel mehr, sondern Versammlungsbauten mit Sitzgelegenheiten und als grossem Unterschied einem Altar vor dem Kultbild im Innenraum. Wir kennen den Versammlungsbau auch aus der christlichen Religion und den christlichen Bauwerken.

Dueblin: Sie haben Ihre Habilitation über Gemeinschaften geschrieben und bei Ihren Studien das Haus des Merkur in Chur genauer untersucht. Wie muss man sich denn diese Gemeinschaften, die es nicht nur in Sachen Religion, sondern auch unter Händlern gegeben hat, vorstellen. Kann man diese Gemeinschaften mit heutigen Service Clubs oder Logen vergleichen?

Prof. Dr. Christa Ebnöther: Man kann das so sehen. Ich würde in diesem Zusammenhang vor allem das Zunftwesen noch erwähnen, das ganz ähnlich funktioniert. Im ganzen römischen Reich gab es Zusammenschlüsse von Berufsgemeinschaften und eben auch Kultgemeinschaften, die klar nach dem Vorbild städtischer Gemeinschaften organisiert waren. Sie halfen Menschen, sich zu vernetzen und führten dadurch zu Integration und zu Zusammenhalt. Auch Einwohner von anderen Provinzen schlossen sich zusammen. Sie hatten in verschiedenen Städten ihre Versammlungshäuser. Man könnte diese Versammlungshäuser als eine Art von „Immigrations-Center“ beschreiben. Im Haus des Merkur in Chur trafen sich Händler, die wahrscheinlich zu einer grossen Kaufleutengemeinschaft gehörten, die im gesamten Imperium ihre Niederlassungen hatten. Die Regelung von geschäftlichen Angelegenheiten war sicher wichtig, zentraler aber wohl der gemeinsame Kult für den jeweiligen Schutzgott, im Falle von Chur bzw. der Händler war es Merkur, und vor allem das nach dem Kult ausgerichtete Kultmahl, das – wie uns schriftliche Quellen bezeugen – oftmals in eigentliche Trinkgelage ausufern konnte. Ein solches Trinkservice fand sich im Übrigen auch in Chur.

Dueblin: Theodosios I hat die christliche Religion rund 380 n. Chr. zur Staatsreligion erklärt. Das Christentum ist, wie wir heute wissen, seither enorm gewachsen. Was passierte mit dem Mithras-Kult und mit anderen sogenannten heidnischen Religionen?

Prof. Dr. Christa Ebnöther: Bevor das Christentum Staatsreligion und etwa 10 Jahre später alle heidnischen Kulte verboten wurden, erliess Kaiser Galerius 313 n. Chr. ein Toleranzedikt zur Duldung des Christentums nach jahrelanger Verfolgung. Jeder sollte nach dieser Vereinbarung seinem eigenen Glauben nachgehen können, ohne verfolgt oder bestraft zu werden. In der Schweiz sind bisher wenige Kultstätten für den Mithras-Kult bekannt, so u.a. aus dem 4. Jh. in Martigny, dem römischen Forum Claudii Vallensium. Die Mithras-Kultbilder sind dort zerschlagen in einer Grube vorgefunden worden. Vielleicht kam es zu einem „Bildersturm“ seitens der Christen. Diese hatten am selben Ort ebenfalls einen ersten Kultbau und 381 n. Chr. ist dort der erste Bischof bezeugt.

Dueblin: Es ist ziemlich gut belegt, dass sich die Römer um das Jahr 401 n. Chr. ins Gebiet des heutigen Italiens zurückziehen mussten. Die Einfälle der Goten waren zu schwerwiegend, als dass man sie noch hätte abwehren können. Somit wurde das Gebiet nördlich der Alpen aufgegeben. Wir wissen, dass sich die Helvetier als Stamm nicht durchsetzen konnten. Wie die Helvetier gingen wohl viele andere keltische Stämme in anderen Völkern auf. Wie muss man sich diesen Prozess vorstellen?

Prof. Dr. Christa Ebnöther: Diese heutige Identifikation mit den Helvetiern muss etwas kritisch und mit Distanz betrachtet werden. Die Civitas der Helvetier, die im heutigen Mittelland gelebt haben, aber auch die Rauracher, waren zu dieser Zeit schon sehr durchmischt. Auch wenn im Verlaufe des 3. und 4. Jh. doch an vielen Orten Zerstörungen und Veränderungen zu beobachten sind, die auf Einfälle und Raubzüge germanischer Gruppen zurückzuführen sind, sehen wir, dass viele Städte und Siedlungen kontinuierlich bewohnt blieben. Kommen aber heute bei Grabungen germanische Gegenstände ans Tageslicht, ist oftmals nicht ganz klar, ob es sich nicht auch um Gegenstände von Germanen handeln könnte, die von der römischen Armee rekrutiert worden sind, also auf der Seite der Römer kämpften und deren Heer angehörten. Die germanische Sprache wurde mit der Zeit in unserem Gebiet dominant. In den Gebieten, in denen sich die Römer aufhielten und welche später nicht von den Germanen dominiert wurden, ist die Sprache lateinisch geprägt geblieben. Es bildeten sich damals schon die Sprachgrenzen. Auch hierbei handelt es sich um eine Entwicklung, die jahrhundertelang gedauert hat.

Dueblin: Heute sind manch einem die Sprachen und Sprachgrenzen bewusst und gerade Juristen wissen, dass unser Rechtssystem vielfältig von den Römern geprägt ist. Was sind andere Einflüsse der Römer auf unsere heutige Gesellschaft, derer wir uns vielleicht gar nicht immer so bewusst sind?

Prof. Dr. Christa Ebnöther: Denken Sie beispielsweise an die religiösen Riten und Gesten, welche von den Römern und in den von den Römern beeinflussten Gebieten Brauch waren. Viele davon sind im heutigen Alltag in adaptierter Form v.a. in katholischen Gebieten noch zu finden. Auch damals haben die Menschen die Götter des römischen Pantheons für verschiedene Dinge um Unterstützung und Hilfe gebeten, ähnlich wie die Heiligen heute. Sie finden überall Konnexe zur römischen Kultur. Mir scheint ganz wesentlich, dass die Römer einen eigentlichen europäischen Wirtschaftsraum herbeigeführt haben, der bis heute nachwirkt und den heute viele Menschen als Vorgänger der Europäischen Union betrachten. Das gesamte Wirtschafts- und Handelssystem war eine geniale römische Leistung. Die Römer waren in England, in Afrika, aber auch im Osten und überall spielte der Handel von Waren eine sehr grosse Rolle. In diesem gewaltigen Wirtschaftsraum wurden Unmengen von Gütern verschoben. Der Handel war extrem gut organisiert. Unsere ganze Weinkultur findet ihren Ursprung bei den Römern.

Dueblin: Was haben die Menschen aus unserer Region denn in Richtung Rom exportiert?

Prof. Dr. Christa Ebnöther: Der Käse aus unserer Gegend wurde in den römischen Gebieten sehr geschätzt. Es gibt schriftliche Zeugnisse, die auf diesen Käseexport hindeuten. Auch Holz, Felle, Räucherfleisch und Geschirr aus Speckstein aus den Südalpen waren Exportprodukte.

Dueblin: De gustatio (www.de-gustatio.ch), ein Start-up, das auch mit Ihnen und Archäologie zu tun hat, kocht nach alten römischen Rezepten und auch nach keltischer Tradition. Was hat es, um noch kurz über die Gegenwart zu sprechen, mit diesem Start-up auf sich und woher stammen die Rezepte, nach denen gekocht wird?

Prof. Dr. Christa Ebnöther: Es handelt sich um Studierende und ehemalige Studierende, die Freude an der römischen Kultur haben und überlieferte Rezepte, beispielsweise von Apicius, originalgetreu nachkochen. Dieses Start-up-Unternehmen wurde 2007 gegründet und erfreut sich grosser Beliebtheit. Man kann über De gustatio ganze Catering-Angebote bestellen.

Ein weiteres Projekt ist nicht weniger interessant. Es handelt sich um das ebenfalls von ehemaligen Studierenden und aktuellen Studierenden betriebene Start-up Urkultour (www.urkultour.ch), dessen Ziel es ist, aktuelle Forschungsresultate zu vermitteln. Neben steinzeitlichen Projekten sind sie momentan daran, ein weiteres Vermittlungsprojekt namens „Brenodor“ auf die Beine zu stellen. Brenodor ist der älteste Name von Bern, der grössten bekannten keltischen Siedlung in der Schweiz, die nicht unter der heutigen Altstadt, sondern auf der Engehalbinsel liegt. Dieses Stück Vergangenheit der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ist das Ziel dieses Projektes.

Dueblin: Sehr geehrte Frau Professor Ebnöther, was wünschen Sie sich persönlich und der Archäologie in der Schweiz?

Prof. Dr. Christa Ebnöther: Wir arbeiten an vielen kleinen Projekten, vorab in Zusammenarbeit mit verschiedenen Kantonsarchäologien. Ich verfolge dabei aber nicht nur wissenschaftliche Ziele. Die Projekte sollen auch dazu dienen, die Studierenden in ihrem späteren Berufsfeld zu vernetzen. Die Budgets werden aber überall gekürzt, doch gilt es im Moment, das Beste aus dieser Situation zu machen. Aus der Perspektive der Universität, an der NachwuchsforscherInnen ausgebildet werden, wünsch ich mir eine baldige Verbesserung der Situation und damit der Berufsperspektiven der JungforscherInnen, die sich zurzeit mit wenig Mitteln, aber grossem Einsatz und Engagement, für ihre Sache einsetzen. Dass wir keine ausschliessliche Elfenbeinturmwissenschaft sind, sondern auch versuchen, die Geschichten aus dem Boden einer breiten Bevölkerung zu vermitteln, zeigen die beiden Start-up-Unternehmen. Auch ihnen wünsch ich viel Erfolg.

Dueblin: Sehr geehrte Frau Professor Ebnöther, ich bedanke mich herzlich für dieses Gespräch und wünsche Ihnen und Ihren Projekten weiterhin viel Erfolg

(C) 2012 by Christian Düblin. Alle Rechte vorbehalten. Anderweitige Publikationen sind nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors gestattet.

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Links
Institut für archäologische Wissenschaften: Prof. Dr. Christa Ebnöther
Homepage „ur.kultour“
Homepage „de-gustatio“

 


Beispielrezept: Dulcia domestica – Apicius, De Re coquinaria, 7.13.1

Originaltext:

palmulas vel dactylos excepto semine, nuce vel nucleis vel piper tritum infercies. Sales foris contingis, frigis in melle cocto, et inferes

Hausgemachte Süssspeise: Fülle grosse oder normale Datteln, nachdem der Kern entfernt ist, mit Nüssen, Pinienkernen oder fülle gemahlenen Pfeffer hinein. Bestreue sie aussen mit Salz, brate sie in gekochtem Honig und serviere.

Rezept de-gustatio

Pro Person:
2 Datteln                       
2 HaselNüsse
1 Pfefferkorn, schwarz
1 KL Honig
grobes Meersalz

Die Datteln längs einschneiden und Steine entfernen. Haselnüsse mit dem Pfefferkorn im Mörser stossen. Falls kein Mörser vorhanden ist kann man auch gemahlene Haselnüsse und Pfeffer verwenden. Datteln mit der Haselnuss-Pfeffermasse füllen und wieder verschliessen (etwas zusammendrücken, die Datteln kleben). Etwas Salz über die Datteln streuen. Den Honig in einer Bratpfanne flüssig werden lassen und die Datteln so lange im Honig braten, bis die Haut aufplatzt; noch warm servieren.

(Originaltext sowie die Übersetzung aus „Das römische Kochbuch des Apicius. Vollständige zweisprachige Ausgabe. 1991 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart“)