Prof. Dr. Albert A. Stahel

Prof. Dr. Albert A. Stahel

Prof. Dr. Albert A. Stahel, geboren 1943, studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Zürich, wo er auch promovierte. In seiner Habilitationsschrift an der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich setzte er sich sehr intensiv mit strategischen Studien auseinander, ein Thema, das ihn sein ganzes berufliches Leben lang beschäftigen sollte. Medieninteressierten Menschen ist Professor Stahel als Experte für Sicherheits- und geopolitische Fragen im Radio und Fernsehen sowie als Autor von Sachbüchern bekannt. Professor Stahel lehrt bis heute an der Universität Zürich und wirkte bis 2006 als Dozent für Strategische Studien an der Militärakademie an der ETH Zürich. Professor Stahel ist u.a. auch Gründer des Instituts für Strategische Studien in Wädenswil, das sich mit geopolitischen und sicherheitspolitischen Themen auseinandersetzt. Im Interview mit Christian Dueblin äussert sich Professor Stahel über den Islamischen Staat. Er zeigt Hintergründe über die Entstehung von ISIS auf und nimmt Stellung zu den Reaktionen anderer Länder, wie den USA oder Deutschland, von wo aus unlängst Waffenlieferungen an die Kurden offiziell abgesegnet worden sind. Zudem zieht Professor Stahel als Militärexperte Parallelen zu vergangenen Gräueltaten und deren Konsequenzen und er äussert sich zur Verantwortung Saudi-Arabiens und der Türkei in dieser Angelegenheit.

Dueblin: Sehr geehrter Herr Professor Stahel, wohl nur für Laien und nicht für Fachexperten hat sich innert sehr kurzer Zeit eine neue „Terrororganisation“ namens Islamischer Staat (ISIS) in den Unruhegebieten von Syrien und Irak bemerkbar gemacht, die offenbar mit äusserster Gewaltbereitschaft und viel medialer Choreographie und Inszenierungen, bspw. mit Enthauptungen, auf sich aufmerksam macht. Wer ist der Islamische Staat, woher kommt er und was ist an ihm überhaupt islamisch?

Prof. Dr. Albert A. Stahel: Die Ursprünge des Islamischen Staates gehen auf Al Kaida im Irak, AQI, zurück. Diese Organisation wurde 2003-04 nach der Invasion des Iraks durch die USA aufgebaut und durch den Jordanier Abu Musab al-Zarqawi geführt. Er hatte seine Kriegserfahrungen in Herat, im westlichen Afghanistan, gesammelt und schwor Osama bin Laden Treue. Die Anschläge von AQI wurden mehrheitlich gegen die Schiiten im Irak geführt und zwar mit äusserster Brutalität. 2006-07 hatte AQI eine Kampfstärke von 10‘000 Mann. Zarqawi wurde 2006 durch einen Luftschlag der Amerikaner getötet. Die Führung der Operation hatte US-General Stanley McChrystal inne. Infolge der amerikanischen Luftschläge und der Geldzuwendungen wandten sich die sunnitischen Stämme von AQI ab. Abu Bakr al-Baghdadi übernahm nach seiner Freilassung aus dem berüchtigten Gefängnis Abu Ghraib die Führung über AQI. 2011 war die Kampfstärke von AQI auf unter 1000 Männer gefallen. Nach dem Abzug der US-Truppen wurde AQI umorganisiert. Die Organisation nahm 2012-13 an den Kämpfen in Syrien teil. 2013 erhielt AQI den neuen Namen ISIS, Islamischer Staat im Irak und der Levante. Damit sollte eine Fusion mit der Nusra Front, der Al-Kaida-Zelle in Syrien, erreicht werden. 2013-14 eroberte ISIS grosse Gebiete im Irak. Im Februar 2014 brach ISIS mit Al-Kaida im Zusammenhang mit der geplanten Errichtung eines Kalifats. Im Juni 2014 gab ISIS die Errichtung des Kalifats bekannt und verkündete den neuen Namen Islamischer Staat. Nun hatte ISIS wieder eine Kampfstärke von über 10‘000 Mann. Im Juni-Juli eroberte ISIS im Irak die Städte Mossul und Tikrit. Als Schutz für die Kurdengebiete im Irak setzten amerikanische Luftschläge gegen ISIS-Stellungen ein. Am 19. August wurde der Journalist James Foley öffentlich hingerichtet und am 2. September der Journalist Sotloff.

Die Bezeichnung Terrororganisation ist irreführend. Wir haben es hier mit einem staatsähnlichen Gebilde zu tun. ISIS verfügt dank der Rekrutierung von ehemaligen Offizieren der Armee von Saddam Hussein über eine konventionell geführte Armee von grosser Schlagkraft. Die eroberten Gebiete werden durch Gouverneure verwaltet. In Bagdad führt ISIS zur Destabilisierung der irakischen Regierung und der Armee brutale Anschläge durch.

Öffentliche Exekutionen dienen der Abschreckung der Gegner. Damit folgt ISIS der Tradition der arabischen Eroberungen im 7. Jahrhundert. Nach dem Tod des Propheten 632 beruhte die Existenz des arabischen Reiches auf ständigen Eroberungen. Nur dank wiederkehrender Eroberungen und Plünderungen konnte dieses Weltreich errichtet werden. Als diese aufhörten, brach es schrittweise zusammen. Diesem Prinzip folgt heute auch ISIS.

Dueblin: Wie stehen die arabischen Staaten, von denen man sagt, sie hätten den Islamischen Staat unterstützt, dem Islamischen Staat, aber ganz generell auch den Problemen in Syrien und Irak gegenüber? Der Westen erwartet von diesen Ölstaaten deutliche Zeichen. Wie müssten diese aussehen?

Prof. Dr. Albert A. Stahel: Zu Beginn des Aufstandes in Syrien haben die arabischen Staaten mit sunnitischen Mehrheiten und die Türkei den Sturz von Assad und seiner Diktatur propagiert. Während die Türkei und Katar den syrischen Muslimbrüdern ihre Unterstützung zusicherten, förderte Saudi-Arabien die Salafisten in Syrien mit Geld und Waffenlieferungen. Auch Gönner aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, VAE, haben die Salafisten mit Geld unterstützt. Die Salafisten möchten den Islam politisch und ideologisch in die Zeit des Propheten zurückführen. Der Salafismus ist auch die Ideologie von ISIS. Dies bedeutet, dass Saudi-Arabien einer der massgebenden Staaten ist, der zum Aufstieg von ISIS beigetragen hat. Die Armee von ISIS ist auch wesentlich durch Rekruten aus Saudi-Arabien verstärkt worden. Zu spät hat aber die saudische Königsfamilie erkennen müssen, dass das Kalifat von ISIS aufgrund der Herkunft des Kalifen al-Baghdadi vom arabischen Stamm der Quraisch, dem Stamm des Propheten, die Legitimation von Saudi-Arabien als Hüterin der beiden Heiligen Städte Mekka und Medina in Frage stellen und Saudi-Arabien einer der nächsten Kandidaten für den weiteren Eroberungsfeldzug von ISIS in Arabien sein könnte. Die saudische Königsfamilie versucht nun mit allen Mitteln, sich von ISIS zu distanzieren; vielleicht ist dies nicht mehr möglich.

Was die VAE betrifft, so sind sie in dieser Auseinandersetzung um ISIS weniger wichtig. Dagegen nimmt die Türkei eine unheilvolle Rolle ein, in dem das Land es zulässt, dass die Rekruten aus Europa für ISIS ungehindert über die türkische Grenze nach Syrien einreisen können.

Dueblin: Viele Menschen sind aufgrund kriegerischer Vorkommnisse, auch rund um den Irak-Krieg, was Medienberichte anbelangt skeptisch eingestellt. Tatsächlich sind in der Vergangenheit wohl sehr viele Informationen falsch verbreitet worden, teilweise aus Unwissen, teilweise aber auch sehr bewusst politisch gesteuert. Dr. Daniele Ganser hat im Interview mit Xecutives.net mit grösster Deutlichkeit auf diese Problematik und deren Konsequenzen aufmerksam gemacht. Was hören wir aus Syrien und Irak von den Medien und was stimmt Ihres Erachtens mit der Realität überein? Wo sind Sie selber skeptisch?

Prof. Dr. Albert A. Stahel: Allzu lange war die Berichterstattung in Europa und in der Schweiz über den Krieg in Syrien einseitig. So wurde der Diktator Assad durch den Blick regelrecht dämonisiert. Dies erinnert an die Dämonisierung von Saddam Hussein vor der Invasion des Iraks 2003 durch die USA. Beide Diktatoren haben die Menschenrechte verletzt, aber verglichen mit den Gräueltaten von ISIS waren sie das kleinere Übel. Die Dämonisierung von Saddam Hussein und Assad war das Ergebnis der amerikanischen Propaganda, die am Ende nicht zur Demokratie in diesen arabischen Staaten geführt, sondern schnurstracks in der Diktatur des Islamischen Staates geendet hat. Mit dieser Dämonisierung haben die amerikanischen und europäischen Medien reine Desinformation betrieben und diesen arabischen Staaten einen schlechten Dienst erweisen.

Dueblin: Will man den Nachrichten auf sozialen Netzwerken Glauben schenken, so müssen Aussagen von Beteiligten mit grosser Besorgnis aufgenommen werden. Viele beteiligte Menschen scheinen jeglichen Respekt und jegliche Menschlichkeit verloren zu haben. Zurzeit finden Diskussionen statt, ob diese Menschen als geistesgestört eingestuft werden müssen. Sie sind offenbar bereit, alles Schreckliche zu tun. Sie selber haben sich Ihr berufliches Leben lang mit militärischen Studien, mit Taktiken und der inneren Einstellung von Soldaten befasst. Was geht in Ihnen persönlich vor, wenn Sie von diesen Gräueltaten hören? Ist das ein Novum in der Militärgeschichte?

Prof. Dr. Albert A. Stahel: Der Kalif Ibrahim (al-Baghdadi) ist nicht geistesgestört. Die Gräueltaten seiner Armee und seines Staates dienen der Einschüchterung und Bezwingung seiner Gegner. Damit wird die Eroberung weiterer Gebiete ermöglicht. Beispiele aus der Geschichte für den Einsatz von Gräueltaten als Mittel der Kriegführung sind die Eroberungen des Mongolenherrschers Dschingis Khan (1162-1227) oder die Errichtung von Schädelpyramiden durch die Heere seines Nachfolgers Timur, einem turkisierten Mongolen (1336-1405), der dadurch ganz Zentralasien, den Mittleren Osten und Indien in Angst und Schrecken versetzte. Nicht unerwähnt bleiben sollten übrigens die Gräueltaten von Adolf Hitler, Stalin und Mao.

Dueblin: Unser Nachbarland Deutschland hat eben entschieden, Waffen an Kämpfer in den kurdischen Gebieten zu senden, um diese im Kampf gegen den Islamischen Staat zu unterstützen. Die Frage, ob diese Waffen nicht später einmal für andere Zwecke als diesen eingesetzt werden könnten, scheint schon fast naiv. Was gilt es abzuwägen, was zeigt die Vergangenheit in Bezug auf solche Waffengeschäfte und was halten Sie persönlich von solchen Waffenlieferungen in Krisengebiete?

Prof. Dr. Albert A. Stahel: Mit diesen Waffenlieferungen wird Deutschland in den im Mittleren Osten tobenden Krieg hineingeführt. Ob es für Deutschland einen Sinn macht, sich in diesen Morast zu begeben, wird die Zukunft zeigen. Interessanterweise verweigert das gleiche Deutschland die Lieferungen von Waffen an die Ukraine, gegen den der Nachbar Russland Krieg führt. Ein merkwürdiger Widerspruch!

Dueblin: Welche Herausforderungen hat der Islam, gerade auch in Anbetracht der Machenschaften des Islamischen Staates, zu meistern?

Prof. Dr. Albert A. Stahel: Der Koran ist wie das Alte Testament ein Buch des Krieges und der Kriegführung. Der Islam konnte dank den Eroberungen der arabischen Heere ein Weltreich begründen. Das Kalifat von ISIS nimmt auf diese Tradition Bezug und versucht durch Eroberungen sein Staatsgebiet zu erweitern.

Dueblin: Auch kleine Länder wie die Schweiz sind von diesem Konflikt in Irak und Syrien betroffen. Was können sie beitragen, um Lösungen zu finden und die Bürger, von denen offenbar sehr viele auf der Flucht sind, zu unterstützen?

Prof. Dr. Albert A. Stahel: Die Schweiz müsste insbesondere darauf achten, dass junge Männer aus der Schweiz nicht mehr über die Türkei nach Syrien reisen können und damit als Kanonenfutter die Armee des Kalifen verstärken.

Dueblin: Was für eine Rolle spielt die Türkei in diesem Konflikt und was wird sie in den nächsten Monaten tun müssen?

Prof. Dr. Albert A. Stahel: Die Türkei agiert bezüglich der Kriege in Syrien und im Irak widersprüchlich. Auf der einen Seite könnte die Türkei selbst zum Ziel der Eroberungen von ISIS werden, auf der anderen Seite mischt die türkische Führung im Krieg in Syrien durch ihre Unterstützung für die Aufständischen und im Irak durch die Förderung des Separatismus der Kurden gegen die Regierung von Bagdad mit.

Dueblin: Was wären Lösungsszenarien, um die vom Islamischen Staat heimgesuchten Regionen zu befrieden, damit kommende Generationen ein besseres Leben führen können? Wer müsste dafür im besonderen Masse aktiv werden?

Prof. Dr. Albert A. Stahel: Grundsätzlich sind zwei Ansätze denkbar. Der erste Ansatz ist jener von US-Präsident Obama: gezielte Bombardierungen gegen die Streitkräfte und Führungseinrichtungen des Kalifen im Irak und in Syrien durch die USA mit Jagdbombern F-15E und F/A-18E/F und mit schweren Bombern B-2A. Obama erhofft sich gleichzeitig eine Unterstützung durch Bodentruppen arabischer Staaten. Im zweiten Ansatz würde Saudi-Arabien die Bombardierungen und die Bekämpfung der Streitkräfte des Kalifen allein übernehmen.

Beim ersten Ansatz besteht die Gefahr, dass die Sunniten (85% der Islamischen Welt) die Luftangriffe der USA als den Kreuzzug eines christlichen Staates gegen den Islamischen Staat ansehen, sich mit dem Islamischen Staat und seinem Kalifen solidarisieren und ihnen Unterstützung leisten. Deshalb bevorzuge ich den zweiten Ansatz. Schlussendlich haben die Saudis mit ihren Intrigen gegen das syrische Regime von Assad und ihren Geldzuwendungen an die Salafisten in Syrien und im Irak die Bildung des Islamischen Staates erst ermöglicht. Deshalb sollen die Saudis den Islamischen Staat allein beseitigen und die Verantwortung dafür auch übernehmen.

Dueblin: Sehr geehrter Herr Professor Stahel, ich bedanke mich für dieses Interview und wünsche Ihnen weiterhin alles Gute!

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