Massimo Agostinis

Massimo Agostinis

Massimo Agostinis, Jahrgang 1965, arbeitet seit 2009 als Auslandkorrespondent für Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) in Italien. Zuvor war er 14 Jahre Regional-, Wirtschafts- und Auslandredaktor bei SRF. Im Interview mit Christian Dueblin spricht Massimo Agostinis über seine Arbeit als Auslandkorrespondent in Italien. Er beschreibt die Beziehungen zwischen Italien, der Schweiz und Europa. Nur wenigen Menschen dürfte bewusst sein, dass Italien gleich nach Deutschland der grösste Handelspartner der Schweiz darstellt und zu den innovativen und wirtschaftlich erfolgreichen Ländern der Welt gehört. Das entspricht nicht immer dem Bild, das wir hier in Mitteleuropa von Italien haben. Massimo Agostinis zeigt des Weiteren auf, warum Italien etwas anders tickt, warum seine Politik bei uns eher schräg ankommt und stellt fest, dass Italien vor grossen Herausforderungen steht, die das Land in den Griff bekommen muss, insbesondere in Bezug auf die desolate Situation der heutigen Jugend, die in den nächsten Jahrzehnten wohl auch in diesem Land die Zeche für Versäumnisse in der Vergangenheit bezahlen muss.

Dueblin: Herr Agostinis, jeden Auslandkorrespondenten verbindet mit dem Land, in dem er arbeitet, etwas Besonderes. Was ist es bei Ihnen, das Sie an Italien so sehr interessiert, dass Sie sich entschlossen haben, mit Ihrer Familie nach Italien zu ziehen, um von dort in die Schweiz über wirtschaftliche, politische und kulturelle Vorkommnisse zu berichten?

Massimo Agostinis: Ich bin zur Hälfte Italiener, also ein „Secondo“, wie man Menschen aus anderen Ländern, die in zweiter Generation in der Schweiz aufwachsen, bezeichnet, und habe das Land deshalb schon vor meiner journalistischen Tätigkeit in Italien gekannt. Ich war als Kind oft in Italien in den Ferien und habe in Italien auch Familie, mit der ich mich verbunden fühle. Italien ist und war für mich aber auch schon immer ein verrücktes Land, ein Land voller Illusionen, das nicht leicht zu begreifen ist.

Dueblin: Wo sehen Sie die ganz offensichtlichen Unterschiede zwischen der Schweiz, wo Sie aufgewachsen sind, und Italien?

Massimo Agostinis: Schweizer, Nordeuropäer sind generell weniger auf die eigene Familie fixiert, ich würde auch sagen, etwas weniger auf den persönlichen Vorteil bedacht als Italiener. Es gibt in Nordeuropa eher ein Verantwortungsbewusstsein für die Gesellschaft und den Staat als in Italien. Ich würde gar sagen, es fehlt im Belpaese weitgehend. Das „Clan-Denken“ ist in Italien sehr ausgeprägt, was sich auch auf Staat und Wirtschaft auswirkt. Diese werden nicht als Möglichkeit für die berufliche Entfaltung begriffen, sondern sind profane Orte, wo man Geld verdienen kann, um die Familie durchzubringen oder Familienangehörige beruflich unterbringen kann. Deshalb sind Staat und Wirtschaft hochgradig klientelistisch aufgebaut. Nur wer die richtige Person am richtigen Ort kennt, erhält einen Job, häufig unabhängig davon, welche Fähigkeiten man hat.

Das Arbeiten als Journalist und die Auseinandersetzung mit diesem Land sind für einen Journalisten ein Traum. Es geschehen derart viele unglaubliche, häufig auch tragische Dinge, die einen selber erschüttern. Die Herausforderung bei der Berichterstattung ist zu verhindern, dass man in die immer gleichen Stereotype verfällt (Ach, diese Italiener!). Denn das, was in diesem Land passiert, ist selten niedlich. Im Gegenteil: Dieses Land hat ein enormes Selbstzerstörungspotential.

In Italien wird man als Journalist geachtet. Das ist in der Schweiz anders. Unser Image ist hier viel schlechter als in Italien. Ich glaube, aufgrund dieser grundsätzlichen Achtung für Journalisten ist es für mich auch als Vertreter eines kleinen Landes relativ einfach, an wichtige Personen heranzukommen und diese interviewen zu können. Man kann in Italien zwar weniger gut langfristig planen als in der Schweiz. Die Italiener sind dafür viel spontaner. Auch bei CEO grosser Firmen kann es durchaus heissen: „Also kommen Sie bitte heute Mittag vorbei“, nicht erst in 3 Wochen wie in der Schweiz.

Dueblin: Hat dieses spontane Naturell auch mit einer gewissen Extrovertiertheit zu tun, die wir uns auch von italienischen Politikern gewohnt sind, die nicht selten für unsere Verhältnisse etwas schrill und laut daherkommen?

Massimo Agostinis: Zweifellos. Diese Spontaneität finden sie überall. Ich mache beispielsweise ungern Strassenumfragen. Es ist oft nicht einfach, Menschen für Aussagen gewinnen zu können. In Italien ist das ganz anders. Jeder auf der Strasse gibt gerne Auskunft. Die Italiener reden lieber als die Schweizer und haben, so denke ich, in Sachen Politik auch mehr zu sagen als Schweizer. Zudem: Ein Italiener und ein Mikrophon sind beinahe eine Symbiose (lacht).

Dueblin: Zwischen Italien und der Schweiz gibt es noch das Tessin, das zwar zur Schweiz gehört, in dem man aber Italienisch spricht. Nehmen Sie das Tessin als eine Art Mischung zwischen der Schweiz und Italien wahr?

Massimo Agostinis: Mein Vater hat während 25 Jahren in der Schweiz gelebt. Manchmal habe ich den Eindruck, er sei viel strenger als ich, der ich in Basel aufgewachsen bin. Es scheint, als habe der Kultur-Clash in ihm zu einer Überanpassung an die Schweizer Mentalität geführt. So scheint mir das auch bei den Tessinern zu sein. Sie sind in mancher Beziehung engstirniger als die Deutschschweizer. Wir verwenden dafür in der Schweizer Mundart das Wort „bünzlig“. Gleichzeitig können die Tessiner auch sehr spontan und sehr herzlich sein.

Dueblin: Rund 500’000 Italienerinnen und Italiener leben in der Schweiz und rund 50’000 Schweizerinnen und Schweizer leben in Italien. Das sind ganz erstaunliche Zahlen und sie zeigen, dass die beiden Länder eng verbunden sind. Auch die wirtschaftlichen Verbindungen sind enorm. Wie würden Sie selber die Beziehung zwischen der Schweiz und Italien beschreiben?

Massimo Agostinis: Die Wenigsten in der Schweiz wissen, dass Italien nach Deutschland unser wichtigster Handelspartner ist. Man unterschätzt Italien ökonomisch in der Schweiz, weil das Land in den letzten 20 Jahren anderweitig Schlagzeilen gemacht hat. Wir gestehen den Italienern gute Küche und guten Parma-Schinken zu, aber nicht unbedingt wirtschaftlichen Erfolg. Die Italiener sind aber auf vielen Gebieten führend, auch in der Maschinenindustrie. Das wird oft verkannt. Vielleicht hat diese unvollständige Wahrnehmung damit zu tun, dass die ersten Italiener, die zu uns kamen, handwerklich geschickt und oft fleissig waren, aber schlecht ausgebildet. Man schloss daraus, dass alle so sind. Ausserdem kennen wir Italien vor allem aus den Ferien. Da geht man eben nicht in die vielen riesengrossen Industriegebiete, die es vor allem in Norditalien gibt. Ich muss gestehen, dass sie wahnsinnig hässlich sind, noch hässlicher als in der Schweiz. Niemand will dort in den Ferien hingehen. Lieber geht man ans Meer oder geniesst die schönen Städte und Landschaften, die Italien zu bieten hat. In den Ferien lernen wir die Italiener dann vor allem als Kellner und Köche kennen, sehen die vielen schönen italienischen Frauen und denken, dass man hier sehr viel Freizeit hat, da immer alle Kaffee trinken. Damit ist dieses Bild, das wir von Italien haben, irgendwann komplett, entspricht aber nicht der Realität.

Dueblin: Wie denken denn die Italiener von der Schweiz und den Schweizern?

Massimo Agostinis: Für Italiener ist die Schweiz nicht nur eine andere Welt, sondern gar ein anderer Planet. Für sie ist die Schweiz wie ein Motor, in dem alles perfekt funktioniert – ganz im Gegenteil zu Italien, wo vieles nicht funktioniert. Viele Italiener können sich nicht vorstellen, dass bei uns viel weniger gestritten wird, dass wir viele Kompromisse eingehen, dass der Kompromiss gar die Lösungsstrategie generell ist. Für einen Italiener ist es schlicht unglaublich, dass in der Schweiz Urteile innerhalb eines vernünftigen Zeitrahmens gefällt und oft nicht angefochten werden. In Italien wird jedes Urteil weitergezogen, oft solange es geht. Das führt auch dazu, dass Fälle erst nach Jahren abgeschlossen werden können – oder auch gar nie. All das macht die Schweiz für die Italiener zu einer Insel oder eben zu einem Planeten, mit dem man sich im Alltag gar nicht abgibt, weil Italien Lichtjahre entfernt ist, ähnlich zu funktionieren.

Dueblin: Darin ist aber offenbar auch eine gewisse Bewunderung zu erkennen…

Massimo Agostinis: Ja, die Schweiz ist einfach so anders, dass ein Italiener die Eidgenossenschaft mit seinem Land gar nicht vergleichen will. Obwohl: Die Italiener haben die Tendenz, andere bewundern zu wollen. Amerika beispielsweise hat eine grosse Bedeutung. Was auch immer dort passiert, es wird von allen Zeitungen aufgenommen und kolportiert. Als Obama gewählt wurde, gab es in Italien Demonstrationen, derart freuten sich die Leute! Das wäre in der Schweiz wohl eher nicht denkbar. Italien hoffen auch gerne, dass EIN Politiker sämtliche Probleme löst. Das erklärt zumindest teilweise das Phänomen Berlusconi, der derart überzeugend Versprechungen macht, dass ihm immer noch 25% der Wählenden glauben. Es scheint mir auch, als warte man in Italien ständig auf die grosse Erlösung von oben. Ob das mit dem Katholizismus zu tun hat? Ich weiss es nicht, aber es scheint mir nicht abwegig.

Dueblin: In Sachen Politik erscheint Italien oft schräg, wenn nicht sogar grotesk. Wie stehen die Unternehmerinnen und Unternehmer, von denen es in Italien sehr viele gibt, der Politik und ihrem Land gegenüber?

Massimo Agostinis: Sie sind verzweifelt. Sie glauben nicht mehr, dass die Politik die vielen wirtschaftlichen Probleme des Landes lösen kann. Die seriöse Tageszeitung „ilsole/24ore“ publiziert ständig Vorschläge, wie man das Land reformieren könnte. Doch die Politik hört nicht zu, sondern ist mit sich selber beschäftigt. Man weiss, dass bei den letzten Wahlen viele Unternehmer den Komiker Beppe Grillo und seine schwer fassbare Bewegung „Cinque Stelle“ gewählt haben, einfach, weil Grillo verspricht, die verhasste Politikerkaste nach Hause zu schicken. Immer wieder nimmt sich ein Unternehmer das Leben, weil er es nicht mehr schafft, über die Runden zu kommen.

Dueblin: Wie sieht die italienische Unternehmenslandschaft aus?

Massimo Agostinis: Es gibt in Europa nirgends so viele Unternehmer wie in Italien. Italien ist übrigens auch das Land mit den meisten Unternehmerinnen in Europa. Die Schweiz hat auch viele kleinere und mittlere Unternehmen. In Italien sind sie übers Ganze gesehen noch etwas kleiner. Das lässt sich mit einem gewissen Individualismus erklären, der in Italien sehr verbreitet ist, aber auch mit einer gewissen Genügsamkeit. Läuft ein Geschäft, muss es nicht zwingendermassen viel grösser werden, so wie wir das von den USA kennen.

Die grosse Zahl an Unternehmen erklärt sich im Übrigen damit, dass Italiener es bevorzugen, nicht angestellt zu sein. Sie wollen lieber selber über ihr Leben entscheiden, als irgendwelche Regeln zu befolgen. Sie sind zudem sehr innovativ. Weil in Italien viel nicht funktioniert, von der Verwaltung über Spitäler bis zum öffentlichen Verkehr, müssen die Menschen in Italien noch mehr improvisieren, um mit dem Chaos zu Recht zu kommen. Dieses ständige Improvisieren, so erklären es sich zumindest Wirtschaftswissenschafter im Land, wirke sich positiv auf die Innovationskraft aus.

Dueblin: Seit dem Zweiten Weltkrieg soll demnächst die 65. Regierung gebildet werden. Das entspricht mathematisch schon fast einer Regierung pro Jahr. Trotzdem scheint es in Italien eine gewisse Konstanz und auch Vertrauen zu geben, ohne die wirtschaftlicher Erfolg wohl eher nicht möglich wäre. Wie erklärt sich das?

Massimo Agostinis: Die vielen Regierungswechsel gab es bis 2001. Dann kamen 5 Jahre mit Berlusconi, danach 2 Jahre mit der Linken gefolgt von weiteren 5 Jahren mit Berlusconi. So stabil wie in diesen Jahren war die Politik seit dem Zweiten Weltkrieg nicht. Wie es bei der aktuellen Regierungsbildung weitergeht, steht in den Sternen. Vielleicht wird diese Regierung nicht lange überleben. Es gilt aber zu beachten, dass bis 1992 bei allen Regierungswechseln die Democrazia Cristiana (DC) immer mit an der Macht blieb. Die Regierungswechsel haben nicht dazu geführt, dass das Land mal von links und dann von rechts regiert wurde. Wegen der Dauerpräsenz der DC blieb Italiens Politik auch immer berechenbar.

Lediglich in den Siebzigerjahren hat es mal so ausgesehen, als könnten die Kommunisten das Ruder übernehmen. Die Amerikaner hatten mit dieser Vorstellung ihre grosse Mühe und griffen hinter den Kulissen ein. Sie konnten das, da sie seit dem Zweiten Weltkrieg – bis heute – präsent sind. Das Eingreifen der USA hat dazu geführt, dass die DC immer an der Macht bleiben konnte und sich von innen nicht erneuern musste. In ihrem Innern wuchsen aber Klientelismus und Korruption. Wie ein grosses Geschwür platzte das alles beim Skandal Tangentopoli. Richter steckten reihenweise DC-Politiker ins Gefängnis. Die Partei brach unter der Skandallawine 1992 zusammen.

Was viele bei uns nicht wissen: Die enorme Staatsschuld Italiens geht auf die 70er Jahre zurück. Italien wurde damals von schweren sozialen Erschütterungen heimgesucht. Es war ein eigentlicher Klassenkampf zwischen Arbeiterschaft und Patrons. Um das soziale Pulverfass zu entschärfen, begann die DC mit dem Segen der USA einen üppigen Sozialstaat aufzubauen. Ziel war es, die aufgebrachte und nach links tendierende Arbeiterschaft ruhig zu stellen. Als Instrument dazu dienten z.B. das bis vor kurzem sehr tiefe Pensionsalter und die praktische Unkündbarkeit von Festangestellten. Doch Italien hatte eigentlich gar kein Geld, um diese langfristigen Verpflichtungen zu finanzieren. Also begannen die Staatsschulden zu wachsen. Dies, gepaart mit dem Unwillen der Regierungen, das Steuer herumzureissen, liess die Schulden bis zum heutigen Stand auf fast 2 Billionen Euro anwachsen.

Dueblin: Zurzeit wird diskutiert, ob die neusten Vorkommnisse rund um die Wahlen dazu führen könnten, dass der Euro wieder schwächeln wird und sich die Einstellung des Landes zu Europa verschlechtert.

Massimo Agostinis: Einst galten die Italiener und Italienerinnen als überzeugte Europäer im ganzen EU-Raum. Mit der Einführung des Euro und dem damit verbundenen Anstieg der Lebenshaltungskosten kühlte sich diese Begeisterung ab. Heute ist sie vermutlich auf einen historischen Tiefstand abgesunken. Die von Europa unter Federführung Deutschlands verfügte Austeritätspolitik hat zwar den italienischen Haushalt einigermassen ins Lot gebracht. Allerdings ist der Preis sehr hoch: Die Arbeitslosigkeit schnellte von 8 auf offiziell 12 Prozent hoch. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt gar bei 36 %. Zählt man noch jene dazu, die sich gar nicht mehr als arbeitslos melden, weil sie keine Hoffnung auf einen Job haben, kommt man auf über 40% jugendliche Arbeitslose. Es ist daher nicht verwunderlich, haben die EU und der Euro ihren einstigen Glanz eingebüsst.

Es ist aber auch so, dass namhafte europäische Politiker die Situation in Italien aus innenpolitischen Gründen oder weil sie im Wahlkampf waren noch schlechter redeten, als die Situation wirklich war. Seit klar ist, dass Grillo, der mit seiner Bewegung „Cinque Stelle“ auf über 25% Stimmen kam und sich mit keiner anderen Partei auf eine Koalition einigen will, wird die Regierungsbildung in Italien sehr schwierig. Ich dachte zuerst, dass er und Parteien, die ähnlich denken, gemeinsam gegen die Parteienfinanzierung vorgehen, die Zahl der Parlamentarier reduzieren und Reformen angehen würden, die seit langem fällig sind. Grillo hat allerdings kein Interesse daran. Er will das alte System zerstören.

Falls es tatsächlich zu baldigen Neuwahlen kommt, schliesse ich nicht aus, dass Silvio Berlusconi erneut gewinnen wird. In diesem Fall hätte Grillo, der das Alte über Bord werfen wollte, mit seiner Obstruktionspolitik dafür gesorgt, dass das Alte wieder zurückkehrt. Das lässt an den Roman „Il Gattopardo“ denken, in dem ein sizilianische Romanfigur sagte: „Wir müssen alles ändern, damit alles bleibt, wie es ist“. Kehrt Berlusconi wieder an die Macht zurück, könnten die Finanzmärkte verrückt spielen. Berlusconi’s Image ist weltweit derart angeschlagen, dass sich Investoren von Italien abwenden könnten und wieder aufhören, italienische Schuldtitel zu kaufen.

Die Italiener hoffen auf das Fingerspitzengefühl von Staatspräsident Napolitano. Er war Kommunist und wie viele Kommunisten verfügt er über hervorragende analytische Fähigkeiten. Zudem hat er vor etwas mehr als einem Jahr Ex-EU-Kommissar Mario Monti als Ministerpräsident anstelle von Berlusconi installiert. Das war ein politisches Bravourstück. Möglicherweise gelingt dem 88-jährigen erneut ein solches Husarenstück.

Dueblin: Ist Italiens Bevölkerung ganz generell Europa gegenüber eher positiv oder negativ eingestellt?

Massimo Agostinis: Italien war wie gesagt während langer Zeit der EU gegenüber sehr positiv eingestellt. Die Euro-Euphorie ist grosser Ernüchterung gewichen. Vor allem die jungen Italiener sind sich bewusst geworden, dass sie die Zeche für die Krise bezahlen müssen, für die Versäumnisse ihrer Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern. Dann muss man sich also nicht wundern, dass vor allem unter jungen Menschen gegenüber Europa Skepsis aufkommt. Ich glaube, dass die Italiener sehr wohl verstanden haben, dass sie nun nicht einfach auf Gelder aus Berlin und Brüssel warten können, um dann so weiterzumachen wie zuvor. Dass man die italienische Wirtschaft mit einem rigiden Sparkursen erwürgt, lässt an der nötigen Sensibilität vermissen, die nun angesagt wäre, um Italien wieder auf Kurs zu bringen.

Dueblin: In den letzten Tagen und Wochen hat Sie nicht nur die Politik, sondern auch der Vatikan und der Papst beschäftigt. Wie sehen Sie den Einfluss des Vatikans auf die Wirtschaft und die Politik in Italien, ein Land, dem der Papst schon rein physisch sehr nahe ist?

Massimo Agostinis: Die Kirchen in Italien sind ähnlich leer wie in der Schweiz. Die italienischen Bischöfe mischen sich immer wieder in Sachgeschäfte der Politik ein und sorgen so für eine weitere Verschärfung der schwierigen Situation. Das trifft vor allem bei gesellschaftlichen Fragen zu, also bei der Frage um die Anerkennung von gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, Verhütung und Abtreibung. Würde man in Italien über diese gesellschaftlichen Fragen abstimmen können wie bei uns, so würden wir eine ähnlich offene Gesellschaft erkennen können wie in Nordeuropa. Das zeigt, dass die Bevölkerung weit weniger von der katholischen Kirche beeinflusst ist als in der Vergangenheit.

Dueblin: Sehr geehrter Herr Agostinis, was wünschen Sie sich selber und für die Zukunft Italiens?

Massimo Agostinis: Ich werde noch ungefähr zwei Jahr in Italien bleiben. So ist das in meinem Vertrag vorgesehen. Ich könnte mir gut vorstellen, auch länger in Italien zu bleiben. Aus familiären Gründen ist das nicht ganz einfach. Ich würde meinen Sohn gerne in einer deutschsprechenden Umgebung aufwachsen lassen. Ich stelle fest, dass die wenigsten Korrespondenten wieder gerne in ihr „Mutterhaus“ zurückgehen möchten. Man arbeitet im Ausland zwar mehr und immer wieder auch sehr unregelmässig. Aber die Arbeit ist eben auch eine Passion.

Für Italien erhoffe ich mir eine Regierung, die endlich die nötigen Reformen angeht, damit jüngere Arbeitnehmende wieder mit etwas Zuversicht in die Zukunft blicken können. Dafür sind drastische Reformen nötig. Ich hoffe, dass diese endlich jemand an die Hand nimmt. Denn wenn das nicht passiert, wächst mit der Verzweiflung der Jungen auch die Gefahr von grossen sozialen Verwerfungen. Griechenland sollte als erschreckendes Beispiel genügen.

Dueblin: Sehr geehrter Herr Agostinis, ich bedanke mich herzlich für dieses Gespräch, wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihren journalistischen Tätigkeiten und Ihnen und Ihrer Familie alles Gute!

(C) 2013 by Christian Dueblin. Alle Rechte vorbehalten. Anderweitige Publikationen sind nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Autors gestattet.

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