Josef Brunner Xecutives.net-Interview
Dr. Josef Brunner Xecutives.net-Interview

Dr. Josef Brunner, geboren 1930, wuchs im luzernischen Seetal auf, zu einer Zeit, die für Schweizerinnen und Schweizer entbehrungsreich und schwierig war, kam es doch 1939 zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Dr. Josef Brunner musste früh erfahren, was Arbeiten und Verantwortung übernehmen heisst. Vor einem langen Schulweg und Schultag stand zuerst Arbeit auf dem Bauernhof an, den seine Mutter mit sieben Kindern alleine führen musste, da der Vater samt Knechten und Pferden für den Militärdienst eingezogen wurde. Er war das älteste der Kinder, verteilte und kontrollierte die Arbeit seiner Geschwister. Dr. Josef Brunner studierte später an der HSG (mag. oec.) und promovierte an der Universität Zürich (Dr. oec. publ.). Seine Dissertation handelt von der neuen amerikanischen Lehre und Praxis über Geldwertschwankungen in Bilanz und Erfolgsrechnung. 1952 absolvierte er die Offiziersschule und war später ab 1962 Kommandant des Festungs-Regiment 23. In dieser Funktion betreute Dr. Josef Brunner die Gebiete und Festungen, Pässe und Bunker von Grimsel, Furka, Andermatt, Oberalp, Disentis, Lukmanier, Gotthard Hospiz und Airolo, eine Region, die aus dem Zweiten Weltkrieg auch als «Alpen-Réduit» oder «Gotthard-Réduit» bekannt ist. Als Kommandant führte er samt zugewiesenen Verbänden über 5’000 Mann und in der Folge beschäftigte er sich eingehend mit den Geschehnissen im Zweiten Weltkrieg und der Rolle seines Regiments während der Aktivzeit, galt es doch, als Militär eine Position wahrzunehmen, die er seinen Vorgängern verdankte, die im Zweiten Weltkrieg Kriegsdienst leisteten. Dr. Josef Brunner war als Finanzexperte vorerst für Alusuisse tätig, später für das Unternehmen Roche in Basel (1971 bis 1995), wo er seine letzten zehn Arbeitsjahre als «Talent Manager» verbrachte und junge Talente und Manager ins Unternehmen holte, so auch den heutigen CEO von Roche, Severin Schwan, den er zu fördern verstand. Als Pensionierter unterstützte er heute nebst vielem mehr auch Jungunternehmer mit Rat und Tat.

Im Interview mit Xecutives.net spricht Dr. Josef Brunner über seine Jugendzeit während des Krieges und er zeigt auf, was damals in der Schweizer Bevölkerung vor sich ging. Dr. Josef Brunner beantwortet zudem Fragen zu seiner Aufgabe als Kommandant in der Schweizer Armee. Er erklärt wichtige Zusammenhänge in Bezug auf die Schweiz und den Zweiten Weltkrieg. So zeigt er auf, warum Hitler einen Einfall in die Schweiz nicht wagte und beschreibt militärische und gesellschaftliche Zusammenhänge. Schlechte und unnütze Entscheide rund um die Armee würden sich heute rächen, wären doch viele militärische Institutionen, die man aus dubiosen Gründen abgeschafft und dezimiert habe, heute während der Corona-Pandemie ein Segen für die Bevölkerung. Dr. Josef Brunner nimmt Stellung zu Fragen zum Unternehmen Roche in Basel und er beschreibt, wie er junge Talente suchte und abklärte, so auch Severin Schwan, den heutigen CEO von Roche in Basel, der bei einem Assessment die beste Antwort auf eine schwierige Frage leistete, eine Antwort, die Dr. Brunner noch heute zum Schmunzeln verleitet.

Xecutives.net: Sie schauen auf ein sehr spannendes und interessantes Leben zurück Herr Brunner und sind nach wie vor mit bedeutenden Wirtschaftsführern verbunden, nach wie vor auch mit dem Unternehmen Roche in Basel. Selber stammen Sie aus dem Luzernischen, aus einer Bauernfamilie mit vielen Kindern. Sie hatten mir eine Anekdote erzählt. Es ging um ein Theologiestudium und eine Abrechnung mit dem Dorfpfarrer. Was passierte damals in Ihrem Dorf?

Josef Brunner: Diese Anekdote betreffend das Berufsziel “Theologie” war damals als ich noch ein Junge war bloss meine bösartige Erfindung, um den Dorfpfarrer nachhaltig zu ärgern. Diese Vorgehensweise habe ich zuvor mit meiner Mutter abgesprochen. Eines Tages wurde ich nämlich überraschend zum Pfarrer zitiert. Dieser meinte, dass ich nie mehr im Schülergottesdienst gewesen sei. Er hatte ein raffiniertes Kontrollsystem eingerichtet und dieses verriet mich als «Schwänzer». Als ich ihm mein tägliches Arbeitsprogramm mit dem Zeitbedarf aufzählte – ich musste am Morgen und am Abend vor und nach der Schule meiner Mutter auf dem Bauernhof helfen, da mein Vater ja Militärdienst leistete – und er gelangweilt zugehört hatte, meinte er belehrend, dass ein Besuch trotzdem möglich wäre, wenn ich das Programm richtig planen würde. Diese abschätzige Bemerkung habe ich ihm nie verziehen. Ich habe immer wieder darüber nachgedacht, wie ich ihn nachhaltig ärgern könnte. Als ich ihn später zufällig, aber geistig vorbereitet, auf dem Dorfplatz traf und er mich fragte, was ich werden möchte, sagte ich ihm, dass meine Mutter mich gerne als Theologe gesehen hätte, dass sie aber inzwischen meine Abneigung für diesen Beruf nach seinem früheren «Anschiss» voll verstanden habe. Für ein solches Nachtragen würde ich später im Fegefeuer büssen, drohte der Dorfpfarrer mir mit dem Zeigefinger.

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Josef Brunner in seiner Kindheit auf einem Bauernhof im luzernischen Seetal
(Foto: mit freundlicher Genehmigung von Josef Brunner)

Meine Mutter schickte mich ins Gymnasium, weil ich immer gute Noten nach Hause brachte und wir waren vier Buben, von denen nur einer den Hof übernehmen konnte. So liess sie den jüngsten Bruder zum Käser ausbilden, der nachher zur Kantonspolizei ging. Sie ging somit strategisch vor, was dem Vater nicht immer gefiel. Religion bedeutete meinen Eltern, meiner Verwandtschaft und mir viel, aber wir alle hatten einige wichtige Vorbehalte gegenüber dem Dorfpfarrer. Interessanterweise ist sein Neffe mein bester Freund und ein zuverlässiger Offizier im Rgt Stab geworden. An der HSG wurde ich Präsident der neu gegründeten ökumenischen Vereinigung, die mit den ökumenischen Referaten einen so grossen Zulauf hatte, dass wir sogar die Unterstützung des Bischofs von St. Gallen erhielten. In der Studentenverbindung «Bodania» lernte ich meine späteren Schwiegereltern kennen, denn der Schwiegervater war eines der Gründermitglieder.

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Josef Brunner als „Bodaner“ auf einer Reise der Studentenverbindung Bodania in Indien (Foto: mit freundlicher Genehmigung von Josef Brunner)

Xecutives.net: Sie haben die Schule besucht als der Zweite Weltkrieg in Europa wütete, eine Zeit, die Sie persönlich, Ihre Familie aber auch die ganze Schweiz prägte. Vielen jüngeren Menschen ist nicht mehr klar, was damals in der Schweiz alles passiert ist. Wie haben Sie selber, heute 90 Jahre alt, diese Zeit in Erinnerung?

Josef Brunner: Mir kommt dazu eine Anekdote in den Sinn, die ich Ihnen gerne mitgebe: Am 10. Mai 1945, zwei Tage nach Kriegsende, kam unser Deutschlehrer in die Klasse und fragte nach dem internationalsten Schriftsteller im deutschsprachigen Raum. Einer meinte das sei Goethe. Darauf sagte der Lehrer, dass das ein nationaler Dichter gewesen sei. Ein zweiter Schüler meinte Shakespeare. Auch diesen deklarierte der Lehrer als einen nationalen Dichter. Da meinte der Lehrer, dass nur Schiller ein internationaler Schriftsteller und Dichter gewesen sei. Er meinte, das sei darauf zurückzuführen, dass Schiller für jedes Land ein typisches Drama geschrieben habe. Für die Schweiz Wilhelm Tell, für die Österreicher Wallenstein, Braut von Messina für Italien, Die Kraniche des Ybikus für die Griechen, Jungfrau von Orléans für die Franzosen, Don Carlos für die Spanier, Maria Stuart für die Engländer, Der Abfall der Niederlande für die Holländer, König Gustav für die Schweden, Turandot für die Chinesen und der Falsche Zar für die Russen. Da fragte ein Schüler, was er denn für den grossen Kanton geschrieben habe, also für die Deutschen. Da sagte der Lehrer «Die Räuber» (lacht).

Ich erwähne noch ein Vorkommnis an der Schule, an das mich Schüler bei späteren Klassentagungen immer wieder erinnerten. Als ich in die Klasse kam, standen wie immer die Schüler auf. In der vordersten Reihe war eine sehr grosse Schülerin mit einer übergrossen Sonnenbrille. Ich soll mich vor ihr tief verneigt und gesagt haben: Ich danke ihnen für die grosse Ehre, aber so blendend bin ich auch wieder nicht (lacht).

Soviel zur komischen Seite meiner Erinnerungen an den Krieg. Diese Zeit war, wie Sie selber sagen eine grosse Belastung für die ganze Schweiz. Ich ärgere mich heute, wenn Historiker von geheizten Zimmern aus über diese Zeit abschreiben, schreiben und falsche Informationen in Umlauf bringen. Wir hatten noch keine geheizten Zimmer und vieles, was junge Menschen heute in der Schule lernen, ist erwiesenermassen falsch! Erstens hatte der Bundesrat die Durchfahrt durch die Schweiz mit der Bahn schriftlich garantiert, nachdem Deutschland und Italien die Finanzierung des Gotthardtunnels übernahmen, als die schweizer Baufirma Konkurs ging. Zweitens wurde das „Jot“ in den Pässen der deutschen Juden nicht von einem Schweizer erfunden. Drittens hat die Schweiz die Flüchtlinge nicht wie Sklaven behandelt, wie ein Amerikaner in einer Zeitung schrieb. Sie schliefen tatsächlich auf Stroh wie die Wachtsoldaten, aber Frauen und Kinder brachte man in die leerstehenden Hotels, sie erhielten die gleich kleinen Mahlzeiten wie der Rest der Bevölkerung in der Schweiz. Die Vorbereitung für eine Schlacht mit Gabel und Spaten war für den Anbau von Lebensmitteln und nicht für eine Schlacht in «Anbau» im Kanton Seldwyla. Aber pflichtbewusste Trittbrettfahrer übernahmen die Story. Sie hatte zudem Fernwirkungen. Als mein Freund in einem Bahnhof von Washington mit seiner Frau sprach, wurde er von einem US-Bürger nach seiner Herkunft gefragt. Als er sich als Eidgenosse zu erkennen gab, zitierte dieser besagten Zeitungsschreiber, drosch mit Verwünschungen auf ihn ein, und der biedere Mann konnte sich durch einen Sprung in den Eisenbahnwagen vor Handgreiflichkeiten retten.

Xecutives.net: Wir kommen auf den Zweiten Weltkrieg noch zu sprechen. Zuvor möchte ich Sie aber auf Ihre berufliche Karriere ansprechen. Sie haben an der HSG studiert. Wie kam es zu diesem Entscheid und Entschluss, an die Hochschule zu gehen, später gar zu promovieren?

Josef Brunner: Ich absolvierte mein Examen im Gymnasium Sarnen 1951 mit der humanistischen Matura A. Da das Gymnasium keinen Luftschutzkeller hatte, mussten wir in der Kriegszeit bei einem Fliegeralarm rasch hinaus auf die Wiese springen und uns dort verteilen. An der HSG schloss ich 1955 als mag.oec. (diplomierter Handelslehrer) ab und hatte dann ein Jahr lang einen Lehrauftrag am KV Zürich, weshalb ich mich an der Universität Zürich und nicht an der HSG immatrikulierte.

Mein Lizentiat in St. Gallen wurde an der Universität Zürich trotz guter Noten nicht voll anerkannt und ich musste in den Kernfächern nochmals einsteigen. Ich wollte als diplomierter Handelslehrer weiterstudieren. Ich arbeitete für die Kantonsschule Luzern und hatte insgesamt ein Pensum von 36 Stunden die Woche. Ich musste danach die Prüfungen in Zürich noch einmal wiederholen, was mit erheblichem Aufwand verbunden war. Auch leitete ich damals als Kommandant eine Batterie und war Präsident des Schweizerischen Artillerievereins. Schliesslich hatte ich auch noch eine Familie, der ich gerecht werden musste. Insgesamt war das eine tolle Zeit, die aber sehr viel von mir abverlangte. Ich lernte damals das Zeitmanagement. Das hat mir später als Kommandant der Gotthardfestung und auch bei meiner Tätigkeit für Roche sehr geholfen.

Ab 1957 hatte ich also ein volles Pensum an der Kantonsschule und am KV Luzern und während dieser Zeit doktorierte ich zur finanziellen Entlastung meines Vaters an der Universität Zürich bei Professor K. Käfer, der von mir zuerst eine Semesterarbeit verlangte, die ich über einen Sanierungsfall mit 25 Seiten ablieferte. Meine Dissertation “Neue amerikanische Lehre und Praxis über Geldwertschwankungen in Bilanz und Erfolgsrechnung” wurde in die Reihe der Uni aufgenommen. Ich hatte zwar für die HSG Praktiken in der Wirtschaft von einem Jahr hinter mir, aber Prof. Käfer wünschte, dass ich nochmals mindestens ein bis zwei Jahre in die Praxis gehe, um dann zu habilitieren. Bei Alusuisse (1964 bis 1971) wurde ich aber als erster Betriebswirtschafter mit so vielen Aufgaben eingedeckt (erste Konzernrechnung, Aufbau eines Rechenzentrums, Reorganisation des USA-Geschäfts in Tennessee, Rentabilitätsrechnung für Investitionen etc.), dass ich voll ausgebucht war.

Mein direkter und arroganter Vorgesetzter dort liebte Akademiker in keiner Weise. Als ich die erste Konzernrechnung über zehn Jahre ablieferte, fragte er mich nach den verwendeten Regeln. Ich sagte: «Natürlich brauchte ich die Regeln der Nationalbuchhaltung», worauf er mich belehrte und meinte «Statt “National” hätten sie besser “IBM” nehmen sollen.» Damit war mir sein Niveau klar, was mir den Abgang erleichterte. Den Vogel schoss er jedoch bei einer Besprechung des Jahresabschlusses ab. Als ich meinte, dass die liquiden Mittel grösser sein sollten, schlug er dem Präsidenten vor, dass er beim nächsten Abschluss alle Liquidität der Töchter nach Zürich hole und dann sei der Herr Brunner zufrieden, dieser aber sagte, das sei ein Taschentrick von links nach rechts. Der Präsident schwieg, aber von da an wurde der CFO zur Besprechung nicht mehr eingeladen. Alle Aufträge des Präsidenten gingen zudem direkt an mich, was seinen Zorn nicht minderte. Dem technischen Direktor fuhr ich ungewollte an den Karren, weil ich seinen Massstab der “Stromausbeute in %” durch die Rentabilität der Investition zu ersetzen vorschlug, was ihn auf die Palme brachte. Er kritisierte auch meine für die Firma angeblich wertlosen Optimierungsrechnungen, denn eine Erdölfirma hätte dank einer solchen Optimierung auf Kuba eine Raffinerie gebaut, welche dann aber bereits nach zwei Jahren verstaatlicht worden sei und damit sei die Wertlosigkeit solcher Optimierungen klar. Für meine Seminare schuf ich einige Zweizeiler, die mir während der Fahrt zur Arbeit einfielen. Sie machten im Unternehmen ungewollt die Runde und ich kann sie immer noch auswendig:

a: If a company is not financially driven, then the profits are to Customers given.
b: Wer bei Erfolgen ständig in der Ich-Form spricht, braucht bei Misserfolgen diese Formel nicht.
c: Schmieren gehört zum vorbeugenden Unterhalt, denn es erleichtert das Öffnen der Gefängnistüren mehr als nur einen Spalt.

Xecutives.net: Sie gingen später zur Hoffmann-La Roche nach Basel, wo Sie von 1971 bis 1995 zu Ihrer Pensionierung tätig waren und wo man Ihre Fähigkeiten zu schätzen wusste. Wie kam es aber zu diesem Entscheid, der schliesslich auch zur Zusammenarbeit mit dem heutigen CEO, Severin Schwan, führte, der Mitglied Ihres Trainee-Teams war und den Sie haben fördern können?

Josef Brunner: Der Finanzchef von Alusuisse war, wie erwähnt, nicht mein Freund. Ich empfand, dass er nicht über die nötigen Kompetenzen verfügte, wie auch das ganze Management nicht. Ich hatte dann Glück. Der Verwaltungsratspräsident kommunizierte direkt mit mir, so dass ich nicht mehr mit dem Finanzchef verhandeln musste. Der Verwaltungsratspräsident von Alusuisse schickte mich später nach Marseille, wo eine Produktionsstätte geschlossen werden sollte. Die Firma musste innerhalb von sechs Monaten aufgelöst werden. Ich war in einem 5-Sterne-Hotel untergebracht, sehr nobel. Mir war aber schnell klar, dass das nicht geht und von der Arbeiterschaft nicht geschätzt werden konnte. Ich ging somit auswärts essen, in einem gewöhnlichen Imbisslokal mitten in Marseille. Dort gab es aber keine Quittungen. Ich schrieb meine bescheidenen Verpflegungskosten auf einen Zettel und reichte diesen in Zürich dem CFO ein. Wenig später bekam ich von besagtem Finanzchef Post. Ich verstiesse gegen alle Vorschriften und man würde nur Originalbelege akzeptieren, keine handschriftlichen Aufzeichnungen. Dann fügte er an, dass mich ja jemand erkannt haben könnte und man dann der Meinung sei, dass Alusuisse nicht einmal mehr über das Geld verfügen würde, seine Mitarbeitenden richtig zu verpflegen. Schliesslich fügte er noch an, dass er ja nicht wissen könne, ob ich nicht doch an gewissen Abenden eingeladen worden sei und gar nicht selber bezahlt hätte. Diese Mitteilung gehe zu den Personalakten, drohte er. Ich war sehr wütend über diese Nachricht und als ich acht Tage später die Anfrage von Roche auf dem Tisch hatte, musste ich mit meiner Zusage nicht zögern. Als ich den Präsidenten von Roche zum ersten Mal traf, fragte er mich, warum ich eine Mappe herumschleppe. Ich sei gerade beim Jahresabschluss und wolle am Wochenende noch einen Kommentar für den Verwaltungsrat entwerfen, in welchem ja Sie als Mitglied vertreten sind. Dann fragte er, wie es um die Resultate stehe. Ich sei meinem Präsidenten zur Loyalität verpflichtet und dieser werde ihm die Lage sehr bald selber erklären, entgegnete ich ihm. Er sagte dann, ich sei der richtige Mann für ihn und ich sagte mit Handschlag sofort zu. Der Präsident von Roche, Dr. Jann, sagte damals zu mir, dass ich nicht selber kündigen müsse, er würde das für mich machen. Er teilte dies dem Präsidenten von Alusuisse an einer Beerdigung mit, dass ich jetzt für die Roche arbeiten würde. So bin ich zum Unternehmen Roche in Basel gekommen. In der Firma sagte fast jedermann zu mir: Sie gehen wegen dem CFO. Meine Sekretärin trank sich am Mittag einen Schwips an und ich schickte sie nach Hause (lacht).

Xecutives.net: Was war der Grund, dass Sie von Roche angefragt wurden und wie haben Sie die Firma Roche von damals in Erinnerung?

Josef Brunner: Wegen der Erfahrung, eine Konzernrechnung erstellen zu können, erhielt ich unverhofft dieses Angebot von Hoffmann-La Roche Basel, denn dort wollte man auch, vor allem auf Druck der Öffentlichkeit, eine Konzernrechnung haben. Roche hatte den CFO blitzartig entlassen, weil er Geschäfte zu seinem Vorteil abgeschlossen hatte.

Die Stimmung bei Roche damals war sehr «altväterisch». Alles war verknorzt, denn es gab sehr viele «Könige» und «Prinzen» und sie waren alle darauf aus, ihre Position und ihre Vorteile, die sie sich selber geschaffen hatten, halten zu können. Das Organigramm zeigte, dass offenbar jeder direkt dem Präsidenten von Roche unterstellt war, was natürlich schlecht möglich und wenig praktikabel war. Zudem herrschte eine Atmosphäre der Heimlichkeit. Der Grund für diese Werte war natürlich, dass Roche, wie u.a. auch Nestlé, in zwei Teile gegliedert war und der zweite Teil, die Sapac, seit 1933 (!) aus allen Firmen ausserhalb des europäischen Kontinents bestand, deren Firmen wie Dritte behandelt wurden, aber auf Präsidialstufe durch zwei Stimmrechtsaktien verknüpft waren. Der Präsident war während der ganzen Kriegszeit in den USA und leitete den Konzern von dort aus. Diese Teilung wurde zu bürokratisch und 1989 aufgehoben. Als ich die Konzernrechnung vorbreitete, kam deshalb aus den USA Widerstand, denn eine solche mache man im HQ und da seien sie eben zuständig. Wenig später wurde Dr. Fritz Gerber ins Unternehmen gerufen, ein absoluter Glücksgriff für Roche, wie sich später zeigen sollte. Er war sehr klar, kommunizierte präzis und schuf diese Königtümer und Grafschaften ab, von denen es sehr viele gab, eines nach dem anderen. Er hat hart durchgegriffen und meines Erachtens einen sehr guten Job gemacht. Dass er ein Berner war, aus dem Emmental, war hilfreich. Er hatte eine besondere Art, die man als «bernerisch» bezeichnen darf. Er war wie Goethe der Meinung, dass man nicht befehlen kann, wenn man keine klare Sprache spricht resp. nicht präzis kommunizieren kann. Das war auch meine Einstellung, auch im Militär. Dr. Fritz Gerber führte eine sog. Verwaltungskosten-Analyse durch, bei der es darum ging, den Wert von Berichten zu hinterfragen und unnötige Rapporte zu eliminieren. Die freiwerdenden Arbeitsplätze wurden temporär in einem Pool gesammelt, aus welchem dann natürliche Abgänge besetzt wurden. Alle Projektleiter wurden vom Präsidenten zu einem Lunch eingeladen und erzählten ihm von ihren Erlebnissen. Auch brauchte er das Beispiel der russischen Zarin, die im Frühling die erst gefundene Primel ihren Hofdamen zeigen wollte und zu deren Schutz sie die Wache rief, welche den Gartenteil sperrte. Zurück im Palast wurde sie abgelenkt und vergass die Primel, bis sie nach Wochen vom Fenster aus sah, wie die Wache abgelöst wurde. Hätte sie die Wache instruiert, dass sie keine verblühte Primel bewachen müssten, wäre dies nicht vorgekommen. Auch im Unternehmen können Berichte oder Systeme implementiert werden, die einmal wichtig sind oder waren, aber später einfach fortgeführt werden, weil sie kein gegenteiliger Auftrag stoppt. Herr Gerber schrieb diese Geschichte für sich auf und fand, man müsse sie immer wieder erzählen und brauchen, weil sie auch aufs Geschäft übertragen werden könne und überzeugend sei.

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Foto: mit freundlicher Genehmigung von Josef Brunner

Xecutives.net: Sie haben dann eine Konzernrechnung erarbeitet. Was kam dabei raus?

Josef Brunner: Das war 1973. Man meinte nach meinem Resultat, dass das nicht stimmen könne, man habe doch viel mehr Geld verdient (lacht). Ich ging der Sache nach und fand den Denkfehler der zuständigen Roche Manager von damals. Sie hatten nebst vielem mehr fälschlicherweise die Dividenden der Tochtergesellschaften, ebenso die Gewinne auf den internen Lieferungen, als Einkommen behandelt. Die erstmalige Publikation der Konzernrechnung getraute man sich wegen der Sapac-Konstruktion nicht als Konzernrechnung zu bezeichnen und nannte sie Gruppenrechnung und erst noch in einem besonderen Druck in einem separaten Heft. Für die erste Konzernrechnung brauchte mein Team acht Wochen. Statt auf Formularen gelangten später die Daten mit dem Internet direkt und verschlüsselt auf einen PC. Nach drei Tagen lag dann die provisorische Rechnung vor und diese Methode mit «Visual Basic“ schuf Freunde bei Firmen in Fernost und Lateinamerika, denn sie hatten gleiche Termine für das Einreichen wie unsere Gesellschaften in Europa.

Später wurde ich Team-Mitglied einer Gruppe, welche bei der englischen Regierung die verfügte Preissenkung auf Produkten aus der Welt schaffen sollte, was erst nach 30 Besuchen gelang. Bei Dr. Dr. h.c. Henri B. Meier erhielt ich zehn Jahre vor der Pensionierung den begeisternden Auftrag, eine neue Generation für den Finanzbereich aufzubauen, indem ich geeignete Leute identifizierte, ausbildete und einsetzte, einer davon ist heute der CEO des Konzerns, Severin Schwan. Ich erklärte den Teilnehmern, dass an keinen Chef Qualifikationen gehen werden ausser über mich, sobald ich mit dem Seminar den Teilnehmer in eine Pole Position gebracht habe. Die Teilnehmer wählten am ersten Tag einen Sprecher, der mir alle Fragen zustellte und dafür sorgte, dass immer ein halbes Dutzend Leute an meinem Tisch waren, die ihre privaten Probleme mit mir teilen können. Jeden Monat veranstaltete ich einen einfachen Lunch mit den Trainees, wozu man sich nicht anmelden musste. Einer der Teilnehmer hielt ein Referat über sein berufliches Umfeld. Ich hielt auch Vorlesungen an Universitäten in der Schweiz, in Deutschland und in Boston, um an gute Studenten heranzukommen. Später kamen noch die oberen Kader von Roche dazu, weil einige Chefs bloss emsige Bienen wollten und jede Weiterbildung und Ausbildung unterbanden. Ich stellte den Trainees den Businessplan ins Zentrum des Seminars, damit die Mitarbeitenden ganzheitlich und unternehmerisch denken lernten; bei den internen Kadern waren es die Fragen des Controllings. Die Unternehmenskultur von Roche war später komplett verschieden von dem, was ich zu Beginn vorfand. Das Seminar sprach sich an den Hochschulen herum und Human Ressource musste keine Inserate mehr drucken.

Xecutives.net: Wie haben Sie neue Talente ausgewählt und gefördert?

Josef Brunner: Meine Aufgabe war es, diese neue Generation von Finanzspezialisten zu identifizieren, auszubilden und einzusetzen. Ich wusste von einem Institut, wo man in die Welt der Vorstellungsgespräche eingeführt wurde. Es ging darum, bei Vorstellungsgesprächen die richtigen Techniken anzuwenden. Ich wollte das aber anders machen und verzichtete auf dieses Institut, das man heute vielleicht als Assessment-Center beschreiben könnte. Ich dachte bei jedem Kandidaten und bei jeder Kandidatin immer an einen kritischen Faktor, den es bei einer Stelle oder einem Projekt gab und erfand um diesen kritischen Faktor herum eine oft schwierige Geschichte, verbunden mit einer schwierigen Aufgabe. Aufgrund der Antworten konnte ich einschätzen, ob die Kandidaten und Kandidatinnen denken und lösungsorientiert arbeiten konnten. Denken ist nun halt mal wichtig, auch wenn vielerorts auch heute nicht gedacht wird bei der Arbeit.

Xecutives.net: Einer dieser jungen Talente war Severin Schwan. Erinnern Sie sich noch an die Aufgabe, die Sie sich für ihn ausgedacht hatten?

Josef Brunner: Auch für ihn hatte ich einen Fall ausgedacht und ich konfrontierte ihn damit. Ich sagte zu ihm, dass er nun seit zwei Jahren bei uns sei und er sei von der Konzernleitung persönlich für ein sehr geheimes und wichtiges Projekt auserkoren worden. Ich sagte ihm, dass er nun an einer Sitzung sei und plötzlich der Präsident reinkomme und sage, Herr Schwan, morgen gehe es los! Ich sagte zu ihm, dass er ja aber morgen in die Ferien verreisen möchte und schliesslich fragte ich ihn, was er denn nun machen würde. Severin Schwan musste nicht lange überlegen und seine Antwort war erstaunlich. Er meinte, dass er selber nichts mache, dass ich nun aber seiner Frau beibringen müsse, dass die Ferien ins Wasser fallen! (lacht) Diese Antwort war natürlich sehr überzeugend. Ein Appenzeller hätte es nicht besser gekonnt.

Xecutives.net: Das zeugt von Schlagfertigkeit!

Josef Brunner: Ja, wahrlich, das war eine sehr gute Antwort und wir mussten beide lachen! Mir hat das extrem eingeleuchtet. Severin Schwan machte später eine ganz tolle Karriere bei Roche und als CEO heute einen enorm guten Job mit Bodenhaftung. Das hat er an der GV der Aktionäre als neuer CEO der Konzernleitung bewiesen, als er ohne Papier vor seinem Pult stand und seine Aufgabe erklärte und zugleich meinte, dass er nicht in den Zeitungen erfahren müsse, was zu tun sei; er rede mit der Gründerfamilie und dann wisse er es.

Xecutives.net: Herr Brunner, Sie haben auch im Militär eine interessante Karriere gemacht und waren Kommandant des Festungs-Regiment 23. Nun muss man wissen, dass Sie damit die Gegend des Alpenreduits unter sich hatten. Ziel im Krieg war es, den Feind schon vor den Alpen in Bedrängnis zu bringen, um sich im Notfall in den Bunkern der Alpen zurückziehen zu können. Wie verlief Ihre militärische Karriere?

Josef Brunner: Im Militär absolvierte ich 1952 die Offiziersschule bei der Artillerie. Nach der Brevetierung führte mich der Vater nach Hause, wurde aber im Dorf durch einen Aufmarsch der Bürger und der Dorfmusik aufgehalten, weil ich der erste Offizier der Gemeinde war. Als Oberleutnant besuchte ich die Zentralschule 1 und erhielt das Kdo einer Kanonen-Bttr. Später besuchte ich die Zentralschule 2 und erhielt das Kdo der Festungs-Abteilung Gotthard-Hospiz, weil der Vorgänger ausgewechselt werden musste. Dann kam die Zentralschule 3, der wohl schönste Militärdienst, und ich wurde zugeteilter Stabs-Of des Fest-Rgt 23 und übernahm das Kommando, als der Vorgänger zum Brigadier avancierte. Als ich einer Cousine, die Bäuerin war von einem Vorfall in der Offiziersschule Frauenfeld erzählte, stieg meine Hochachtung vor den Schweizerinnen sprunghaft an. Ein Berufsunteroffizier fragte nämlich die Klasse, warum das Kanonenrohr innen einen Rechtsdrall und nicht einen Linksdrall habe. Ein Aspirant sagte: «Das ist reine Konvention», worauf der Fragende meinte, das sei deshalb, dass der Schuss nach vorn und nicht nach hinten gehe. Meine Cousine meinte dann spontan und cool: «Jetzt ist mir klar, warum der Schuss bei Linken immer hinten herausgeht!». (lacht)

Ich hatte das Festungs-Regiment 23, welches aus den Festungen Grimsel, Furka, Andermatt, Oberalp, Disentis, Lukmanier, Gotthard Hospiz und Airolo bestand. Es waren durchwegs Festungen mit einem kleinen Anteil an Artilleristen; die Mehrzahl der Mannschaft bestand aus Infanteristen für die Aussenverteidigung und Soldaten für die 48 Flabkanonen 20 mm, die um die zugeteilten Festungen einen Stützpunkt bildeten. Ganz ungeplant wurde ich noch zum Zentralpräsident des Verbandes der Schweizer Artillerievereine gewählt. Zivile und militärische Aufgaben und Erwartungen zwangen mich zu einem rigorosen Zeitmanagement.

Dank meiner Funktion habe ich fast alle grösseren Festungen der Schweiz gesehen und dabei auch festgestellt, welche Spitaleinrichtungen in den Alpen unterirdisch vorhanden waren. Mit der Liquidation der Festungstruppen sind auch diese Spitäler «unter Fels» samt ihrer Ausrüstung “verscherbelt” worden, die heute als Notunterkünfte für Corona-Patienten oder deren “Verdränger” dienen könnten. Ich vermisse den Weitblick der damaligen Militärchefs. Ein Cousin meiner Frau, der Arzt ist, hat mir auch berichtet, dass ein Notspital unter einem Kantonsspital liquidiert wurde, weil der prüfende Inspektor meinte, die Luft sei zu muffig. Es ist einfach unglaublich, wie man mit den Milliarden-Investitionen der Kriegsgeneration umgeht, aber als Pensionäre sind diese Sünder heute straffrei.

Xecutives.net: Die Gefahr eines Einfalles durch Hitler wurde damals anders beurteilt, als wir das in abgeklärten Geschichtsbüchern lesen können. Es herrschte damals die konstante Angst, dass die Nazis in die Schweiz einfallen könnten. Viele Interviewpartnerinnen und -partner haben sich dazu geäussert, auch zu den „Frontisten“, die es auch gab. Was war Ihres Erachtens der Grund, dass das nicht passiert ist? Was hielt Hitler ab, sich militärisch der Schweiz anzunehmen?

Josef Brunner: Bei der Lektüre der Geschichtsbücher, ich lese am liebsten die der Angelsachsen (z.B. Stephen Halbrook, «Die Schweiz im Schatten des dritten Reichs»), die mit unserem Land fairer umgehen als unsere eigenen Historiker, interessierte mich diese Frage, warum Hitler auf einen Angriff auf die Schweiz verzichtete ebenfalls sehr. Die Meinung eines Soziologen aus Genf schien mir lächerlich, denn sie ist vollgepackt mit Unterstellungen, wenn er sagt, dass man seinen «Banquier» nicht angreift. Vielmehr glaube ich, dass Stephen Halbrook, ein US-Historiker und Freund meines Landes mit seiner Feststellung richtig liegt. Er sagt, dass General Guisan erstens weithin hörbar sagte, dass er Befehl gegeben habe, die für den Grossen Kanton so wichtigen Tunnels am Gotthard und Simplon zehn Minuten nach einem Angriff auf die Schweiz zu sprengen, womit der Kohlentransport zum Freund in Italien via Frankreich erfolgen müsste, wo die Partisanen auf die Züge bereits warten; die deutschen Generäle hätten zweitens in den Karpaten und in Norwegen erfahren, wie ein Krieg im Gebirge den Launen der Natur ausgeliefert ist und unberechenbar ist; drittens besuchte Molotov Berlin und verlangte in seiner ungehobelten Art von Hitler neue Stützpunkte in Europa, worauf Hitler wutentbrannt den auf 1942 geplanten Überfall auf die Sowjetunion auf das Jahr 1941 vorverlegte, damit aber ein Jahr Nachrüstung auf die Verluste in Polen, Norwegen und Westeuropa verlor und deshalb die Ressourcen nachhaltig schonen musste, denn der Angriff im Osten war bereits geplant und verlangte gewaltige Mittel, die in den Alpen reduziert würden. Diese rechte Flanke auf dem Weg nach Russland war für ihn wichtig, denn die Griechen riefen die Engländer, die auf Kreta einen Flughafen bauten, von dem aus sie die Ölfelder in Rumänien hätten bombardieren können, was seinen Panzern geschadet hätte. Für die Bereinigung dieser rechten Flanke, was ihm Mussolini durch seinen Angriff auf die Griechen eingebrockt hatte, brauchte Hitler drei Monate, die ihm dann vor Moskau genau fehlten. Deshalb beschränkte er den Krieg gegen die Schweiz auf den Äther.

Xecutives.net: Sie haben mir erzählt, dass im Alpenreduit auch immer wieder Flüchtlinge aufgenommen worden sind, die man dort gepflegt habe, bevor man sie später an die zuständigen Behörden weiterleitete und sie haben erklärt, unter welchen Umständen die dort eingesetzten Soldaten arbeiten mussten, was sie auch sonst noch alles für die Bevölkerung leisteten, das bis heute nachwirkt. Bauern im Emmental erzählten mir, dass auf allen Höfen ausländischen Flüchtlingen ein Zimmer und Nahrung geboten wurde und die Flüchtlinge oft erheblich zur Funktion und Erhaltung von Bauernhöfen beigetragen hätten.

Josef Brunner: Wenn im Bernbiet Flüchtlinge auf die Bewohner verteilt wurden, ist das im oberen Tessin nicht möglich, denn es sind durchwegs kleine Dörfer. Hinzu kommt, dass einige der Flüchtlinge Partisanen waren, welche durch die Nazis bedrängt wurden, die aber bei der nächsten Gelegenheit wieder zurück nach Italien abhauten, aber in der Statistik als Flüchtlinge registriert blieben. Deshalb ist auch der Vorwurf einiger Historiker dumm, dass die Schweiz die Flüchtlinge militärisch bewacht hätte. Einer meiner Gesprächspartner war ein Oblt. Erni, Bruder des bekannten Kunstmalers Hans Erni, der Hochgebirgsgruppen führte. Aber es ist, wie Sie es gesagt und gehört haben. Die Soldaten damals haben sehr entbehrungsreich gelebt. Sie und ihre Familien waren in steter Angst und Sorge um ihre Familien, auch um die Schweiz, weil man damals wirklich nicht wissen konnte, was noch alles auf die Schweiz zukam. Ich bin sehr stolz darauf, ein Eidgenosse zu sein und ich habe in meinem Militärdienst erfahren können, was der Zusammenhalt bedeutet. Diesen Zusammenhalt sehe ich heute als gefährdet. Wenn ein Historiker meinte, dass die Truppe unproduktiv in den Alpen gewesen sei, soll er einmal die erbauten Strassen, die Telefonverbindungen und Seilbahnen auflisten, welche die Truppe gebaut hatte. Diese Truppe hätte man auch bei der Eröffnung des Basistunnels erwähnen dürfen, denn sie hätte das Dach dieses Tunnels mit dem Einsatz des Lebens verteidigt. Ein Freund meinte, dass die Bundespräsidentin die Truppe doch indirekt geehrt hätte, denn mit den Ringen auf ihrem Mantel hätte sie die Geschütze dieser Region angedeutet.

Xecutives.net: Sie beobachten die Welt heute mit 90 Jahren und mit einem interessanten Rucksack an Erfahrungen. Was geht Ihnen heute durch den Kopf, wenn Sie die Schweiz betrachten und was alles auf dieser Welt passiert, auch in den USA und in China? Was ist heute anders als früher? Wo sehen Sie Gefahren, die lauern?

Josef Brunner: Ich stelle fest, dass es bei uns eine grosse Kluft gibt zwischen den Jungen und den Alten. Wir als Kriegsgeneration haben viel erlebt, viel Schlimmes gesehen und den Jungen heute ist das alles nicht klar. Sie verstehen uns alte Menschen nicht, weil sie nicht wissen, was damals passiert ist. Viele interessieren sich auch nicht für diese Zusammenhänge. Wir haben von den Historikern gesprochen, die in geheizten Studios schreiben und Fehler produzieren.

Ich habe mich einmal über den Geschichtsunterricht informiert als ich an der Kantonsschule war. Die Geschichte der Griechen und Römer hätten sie dreimal behandelt und in der obersten Klasse seien sie bis zur Beresina gekommen, meinten die angesprochenen Schüler. Das ist vielleicht ein Grund, warum die heutige Jugend über den Ersten und Zweiten Weltkrieg fast nichts weiss. Einmal habe ich in einem Restaurant, wo viele Jugendliche waren, spontan gefragt: Wer ist Henri Guisan? Einer meinte, das sei der Leiter des Westschweizer Fernsehens! Die zweite Frage war: Was versteht man unter „Grossem Kanton“? Entweder Zürich oder Graubünden, war die fast einheitliche Antwort der Anwesenden (lacht).

Ein grosser Fehler, den die Schweiz gemacht hat, war es ca. 1995 die 12cm-Festungsminenwerfer um das Alpen-Réduit zu entfernen. Sie hatten eine Reichweite von 10 Kilometern und ein Minenwerfer konnte 20 Schuss pro Minute abfeuern. Damit war es bspw. möglich, in die Schöllenenschlucht zu schiessen, was mit einer Kanone, aufgrund der Tiefe der Schlucht, nicht möglich ist. Ich wurde damals nach Andermatt eingeladen, wo die Schliessung dieser Festungen kommuniziert wurde. Franz Steinegger, der ehemalige FDP Parteipräsident war dort ebenfalls anwesend und er sagte anlässlich seiner Rede etwas sehr Gescheites. Er sagte, dass jemand, der die Pässe aufgibt, diese Pässe auch verlieren wird und zählte viele Beispiele auf, so auch den Brenner und seine Geschichte. Das war sehr eindrücklich und ich habe das nicht vergessen. Als ich einem hohen Bundesbeamten die Frage nach dem Grund für die Schliessung dieser Minenwerfer stellte, war die Antwort: Heute gibt es Waffen, welche alle Punktziele vernichten. Auch diese Waffen haben einen Streubereich und die Oberfläche misst sich hier in Dezimetern.

Xecutives.net: Was denken Sie vom heutigen Bundesrat? Sehen Sie hier auch Unterschiede in der Führung und in Sachen Persönlichkeiten?

Josef Brunner: Die Bundesräte und Bundesrätinnen sind zerstritten. Das spürt man und das wirkt sich negativ auf die Schweiz aus. Ich denke, dass es früher schon ganz andere Persönlichkeiten gab, die besser geeignet waren. Denken Sie bspw. an Bundesrat Ruedi Minger. Er war Bauer. Er stand mit beiden Füssen auf dem Boden und verstand es, Menschen zu überzeugen und zusammenzubringen. Auch Bundesrat Kurt Furgler halte ich für einen grossen Bundesrat. Man muss nicht immer seine eigene Position durchbringen können, aber man muss Kompromisse machen können und die Menschen müssen spüren, dass diese Leute zusammenarbeiten und an einem Strick ziehen. Diese Zeiten sind bei uns vorbei. Einige pensionierte Bundesräte kommen immer wieder mit alten und überlebten Vorschlägen ans Volk, was mich ärgert. Und die Mähr der sog. Wertlosigkeit der Gesichtsmasken hat vor allem bei der Jugend das Vertrauenskapital abgebaut.

Ich möchte Ihnen eine weitere Begebenheit schildern: Als mich mein Vorgesetzter bei Roche damals fragte, wie ich führen würde, sagte ich ihm, wie ein Feldprediger das mache. Er fragte, wie denn ein Feldprediger das machen würde und ich antwortete, dass er aktiv zu den Soldaten geht und dort zuhört. Er geht, wenn man so will, zum Volk und hört zu, hört, wo der Schuh drückt und dann versucht er zu helfen. Er vernimmt alles, das schief läuft und was gut läuft. Ich wollte nie Namen hören in meiner Karriere. Ich habe nie auf eine Person gespielt. Es ging um das Lösen von Problemen. Meine Mutter meinte immer, dass man so wie man mit dem Servierpersonal und mit dem Auto umgehe auch mit den Mitarbeitenden umgehen würde. Sie hatte sehr Recht. Mein Grossvater, dem ich viel zu verdanken habe, sagte immer, dass man den Menschen gegenüber zuvorkommend sein sollte, denn man begegne ihnen nicht nur beim Aufstieg, sondern auch beim Abstieg. Auch diese Devise habe ich mir zu Herzen genommen.

Das haben viele Manager nicht verstanden. Viele von ihnen wollen und können zudem nicht zuhören und das ist ein grosser Fehler. Die Manager müssen wissen, was unten abgeht, was die Menschen bewegt. Manager leben heute oft völlig losgelöst von der Belegschaft und sie finden das normal. Sie werden organisiert davon abgehalten, Kritik zu bekommen. Das schadet unserem System sehr. Ich habe das immer anders gemacht und habe immer das Gespräch mit den Menschen gesucht. Das muss im Übrigen auch ein Bundesrat tun. Zudem machen einige Manager den Fehler, dass sie bloss die nächste Führungsebene kennen aber nicht die übernächste, welche doch das Potenzial der nächsten Ebene darstellt. Das erklärt auch, warum unfähige Manager auf den Markt kommen. Einige Manager gehen auf eine andere Tour. Einer meinte, dass seine Leute nicht fragen müssten, sie könnten selber entscheiden. Tatsache ist aber, dass auf unterer Ebene viele Probleme als klein erscheinen und zu ganz grossen werden können, wie beispielsweise ein Betriebsunfall. So hat mein Chef allen erklärt, wenn sie ein Problem lösen und ihm dies innert 24 Stunden mitteilen würden, übernehme er die Folgen.

Xecutives.net: Aber die Welt hat sich rasant verändert. Sie ist nicht mehr so, wie damals im Zweiten Weltkrieg. Auch die Armee spielt nicht mehr dieselbe Rolle. Die Wirtschaft ist anders, die Globalisierung hat zugenommen u.v.m. Junge Menschen sehen diese Welt anders, weil sie andere Erfahrungen gemacht haben resp. Erfahrungen auch nicht gemacht haben. Was ist heute Ihres Erachtens der grosse Unterschied zu damals? Was unterscheidet Sie und Ihre Generation von den Jungen von heute?

Josef Brunner: Sie haben natürlich Recht. Die Welt und die Wirtschaft haben sich völlig verändert und junge Menschen können gewisse Erfahrungen nicht gemacht haben. Aber es sind eben auch die Werte, die sich geändert haben. Die Menschen in meinem Alter haben eine gewisse Bodenhaftung mit ins Leben bekommen. Sie sind, wenn man so sagen will, «geerdet». Das fehlt heute jungen Menschen. Sie sind nicht mehr mit unserem Boden verbunden und verkörpern eine Spassgesellschaft. Man will es lustig haben und macht sich wenig Gedanken, über das, was alles passiert. Das mag auf den einen oder anderen nicht zutreffen, aber im Grossen und Ganzen ist das so. Sie sorgen sich auch nicht um die AHV, um die Unabhängigkeit der Schweiz. Ihnen ist das nicht so wichtig, solange man es lustig hat und unbeschwert leben kann. Dazu kommt der Konsum, der, verglichen mit früher, eine Dimension angenommen hat, die man sich wohl nie hat vorstellen können. Ich mache mir dazu meine Gedanken und irgendwann bin ich nicht mehr und werde mir das «von oben» anschauen.

Xecutives.net: Diese Spass- und Konsumgesellschaft, mit der wir leben und in der wir leben, die wir aus den Medien und dem TV kennen, was hat sie möglicherweise für die Schweiz und die Gesellschaft für Auswirkungen?

Josef Brunner: Schauen Sie, wenn wir in die EU gehen, dann sind wir nicht mehr die Schweiz, wie wir sie erschaffen und gepflegt haben und für die unsere Vorfahren, die Eidgenossen, gekämpft haben. Die EU würde der Schweiz schaden, wir würden viele regionale Spezialitäten verlieren, davon bin ich überzeugt. Die Schweiz ist viel zu klein, um sich in einem solch grossen Gefäss vor Eingriffen schützen zu können. Wir würden eine abhängige Tochter von Brüssel werden. Unsere Werte, wie Musik, Folklore und lokale Besonderheiten würden langsam aber sicher verschwinden und verflacht. Das ist schade. Wir haben es aber auch mit den USA zu tun, mit einem Präsidenten, von dem man sagen darf, dass er wohl nicht richtig tickt. Er spielt, obwohl er genau das Gegenteil haben möchte, den Chinesen alles in die Hände. Ich denke, dass die chinesischen Machtansprüche weiter anwachsen werden. China wird zur grössten Wirtschaftsmacht werden und das wird die Welt zu spüren bekommen, auch die Schweiz. China hat bereits Syngenta gekauft und wenige Menschen machen sich darüber Gedanken. Das läuft immer ungefähr gleich ab. Firmen werden übernommen und das Know-how wird nach China verfrachtet, um es dann von dort aus weiter nutzen zu können. Wir sollten in Bezug auf China viel vorsichtiger sein, auch der Bundesrat. Viele Länder werden zu einem Spielball werden. Wenn ein Verwaltungsragt heute riesige Summen angeboten bekommt, dann muss die Geschäftsführung eigentlich „Ja“ sagen für einen Verkauf. Die Schweiz sollte jedoch von Staatswegen dafür sorgen, dass gewisse Unternehmen gar nicht an die Chinesen verkauft werden dürfen. Da kann man mir vorwerfen, dass das nationalistisch und protektionistisch sei. Das sind aber Vorwürfe, die die Chinesen kalt lassen und sie auch nicht interessieren und sie würden die gleichen Argumente wie wir brauchen.

Xecutives.net: Herr Brunner, was wünschen Sie sich, der Schweiz und was hält Sie heute fit?

Josef Brunner: Mir liegt die Schweiz sehr am Herzen. Wir müssen gemeinsam gut sorgen für die Schweiz. Auch die Schweiz muss ihre Interessen, wie das die Chinesen tun, wahren. Dafür brauchen wir einen starken Bundesrat, der mutige Entscheide zugunsten einer nächsten Generation hier in der Schweiz treffen kann und geeint auftritt und nicht zerstritten.

Ein Markenzeichen, das ich habe, ist, dass ich dankbar sein möchte. Ich habe tolle Menschen im Regimentsstab gehabt, die mein Leben bereichert haben. Ich habe bei Roche tolle Menschen kennengelernt. Ich habe diese Menschen aus der Dienstzeit in der Armee unlängst eingeladen, zusammen mit ihren Frauen. Meine Frau hat das alles organisiert und es wird in Kürze zu einem Treffen und gemeinsamen Essen kommen. Damit möchte ich mich erkenntlich zeigen und meine Dankbarkeit ausdrücken. Den Frauen dieser ehemaligen Armeeangehörigen möchte ich mitteilen, dass sie sehr stolz sein sollten auf ihre Ehemänner, die Grosses geleistet haben und mich immer vor Abstürzen mit diskreten Hinweisen retteten.

Meiner Frau habe ich unlängst gesagt, dass ich sehr viele freudige Erlebnisse im Leben hatte. Ich habe meine Freude stets geteilt. Nun, wo ich doch schon etwas älter bin, zehre ich von diesen geteilten Freuden. Sie sind zu meinen Reserven geworden und erhalten mich am Leben, wofür ich sehr dankbar bin.

Xecutives.net-Interview-Josef-Brunner-Luganersee
Hoch über dem Luganersee, San Salvatore (Foto: mit freundlicher Genehmigung von Josef Brunner)

Xecutives.net: Sehr geehrter Herr Brunner, ich bedanke mich für die vielen guten Gespräche und die Zeit, die Sie sich für dieses Interview genommen haben. Ich wünsche Ihnen Gesundheit und weiterhin alles Gute, auch Ihrer Frau Gemahlin!

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